Nach dem Tod eines anderthalbjährigen Jungen in Berlin, der sich an den Masern angesteckt hatte, rückt die allgemeine Impfpflicht in den Fokus der Politiker. In der Hauptstadt sind seit dem letzten Herbst mehr als 500 Menschen an Masern erkrankt. Damit ist das von der Weltgesundheitsorganisation WHO gesetzte Ziel, die Masern in Deutschland bis 2015 auszurotten, endgültig vom Tisch. Grund für die Epidemie ist die sinkende Impfbereitschaft der Deutschen. Woran liegt das? Die wichtigsten Fragen zur aktuellen Impfdebatte im Überblick.
Wo hat der Masern-Ausbruch begonnen?
Die ersten Masern-Fälle kamen in Berliner Asylbewerberunterkünften vor, in dem Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien untergebracht waren. Diese Menschen sind seit dem Bürgerkrieg, der in den 90er-Jahren in ihren Herkunftsländern wütete, impftechnisch schlecht aufgestellt. Doch das allein reicht nicht als Erklärung für das Übergreifen der Infektion auf den Rest der Stadt. Immerhin: Über die Hälfte der Masern-Neuerkrankungen betreffen die angestammte Bevölkerung und zwar besonders Jugendliche und Erwachsene, die nach 1970 geboren wurden.
Müssten nicht gerade die ausreichend geschützt sein?
Ja und Nein. Ein Teil hat als Kind oft nur einmalig einen Piekser erhalten - und einmal gilt bei Masern als keinmal. Ein anderer Teil wurde gar nicht mehr geimpft. Eben weil Krankheiten wie Masern oder auch Keuchhusten in den vergangenen 20, 30 Jahren wegen des hohen Immunstatus’ der Menschen in den Generationen davor kaum noch auftraten. Damit verschwanden sie aus dem öffentlichen Bewusstsein.
Jetzt aber können Frauen, die etwa in den 80ern geboren und nicht geimpft wurden, ihren Babys keinen "Nestschutz" mitgeben: Antikörper der Mutter, die auf das Kind während der Schwangerschaft übertragen werden und es so in den ersten Monaten zum Beispiel vor Masern schützen. So steckte sich auch die vierjährige Aliana als junger Säugling mit Masern an, weil ihre Mutter zu der Generation der Nicht-Geimpften gehört. Der Fall des Mädchens, das an einer Spätfolge der Erkrankung, einer chronischen Gehirnentzündung, leidet und daran kläglich zu Grunde gehen wird, erregte Ende 2014 großes Aufsehen.
Was macht die Masern so gefährlich?
"Durch die aktuelle Diskussion wird die Gefährlichkeit von Masern vielleicht sogar etwas überbewertet - sie sind nicht vergleichbar mit den Pocken", sagt Dr. Jan Leidel, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (Stiko). In den meisten Fällen heilen Masern folgenlos aus. Aber eben nicht immer: "Bei etwa 30 Prozent der Erkrankungen kommt es zu Komplikationen. Dazu gehören schwere Mittelohrentzündungen, die bleibende Schäden am Gehör hinterlassen. Lungenentzündungen, die lebensbedrohlich verlaufen können. Und Hirnhautentzündungen, die für ein Drittel der Betroffenen tödlich endet und bei einem weiteren Drittel schwere geistige Folgeschäden hinterlässt."
Wie kann man Masern behandeln?
Anders als Bakterien, die sich mit Antibiotika bekämpfen lassen, kann man eine Viruserkrankung wie die Masern nicht wirklich behandeln. Man kann dem Körper nur helfen, mit den Symptomen fertig zu werden - etwa das Fieber senken und den Kreislauf stabilisieren.
Das Risiko einer Erkrankung ließe sich mit einer Impfung minimieren. Warum sinkt die Impfbereitschaft von Eltern trotzdem?
Umfragen zeigen zwar, dass lediglich rund zwei Prozent der Mütter und Väter echte Impfgegner sind. Allerdings stehen etwa 35 Prozent den offiziellen Impf-Empfehlungen der Stiko so skeptisch gegenüber, dass sie ihnen nur widerwillig oder gar nicht folgen. Vor allem im Bildungsbürgertum sei diese Skepsis zu beobachten, sagt Jan Leidel: "In den klassischen Arbeitervororten, wo Menschen leben, die der Kompetenz ihres Arztes vertrauen, liegt die Impfbeteiligung bei nahezu 100 Prozent. In besser situierten Stadtvierteln ist die Skepsis größer - die Menschen wollen sich nichts sagen lassen und lieber selbst entscheiden."
Wie hoch ist die Impfquote bei Kindern in Deutschland?
Fast 97 Prozent der Schulanfänger sind gegen Masern geimpft, allerdings gilt dies nur für die erste Impfung. Die wichtige zweite Immunisierung erhalten dann nur noch 92,4 Prozent. Zu wenig. Eine Quote von 95 Prozent wäre für beide Impfungen nötig, um das Virus einzudämmen. Doch je mehr Menschen auf die Immunisierung verzichten (und sich darauf verlassen, dass andere geimpft sind), umso größer die Gefahr, dass sie diejenigen anstecken, die zu klein oder zu krank sind, um selbst geimpft zu werden - wie sehr junge Babys oder chronisch Kranke. Und die Entwicklung zeigt: Es gibt keinen "Bestandsschutz". Bleibt eine Bevölkerung nicht über Generationen konsequent durchgeimpft, kehren die Krankheiten zurück.
In vielen Fällen hat die Impfmüdigkeit auch nur etwas mit Bequemlichkeit zu tun: Da die meisten Immunisierungen mehrere Impfungen in unterschiedlichen Zeitabständen erfordern, vergessen Eltern oft die Auffrisch-Termine. Und Erwachsene, die seit Jahren nicht mehr in ihren Impfpass geschaut haben, denken erst recht nicht daran, ihren Impfschutz überprüfen zu lassen.
Die Angst wird vor allem durch Gerüchte über Nebenwirkungen und Folgeschäden bestimmter Impfungen geschürt. Was ist dran?
"Bei der Masernimpfung sind Impfschäden extrem selten - lokale Beschwerden wie eine Rötung oder Schwellung des gespritzten Armes ausgenommen. Auch eine leichte Temperaturerhöhung oder ein den Masern ähnlicher Ausschlag (sogenannte Impfmasern) sind normale Körperreaktionen, die nicht ansteckend sind und problemlos verschwinden. Wirklich schwere Komplikationen habe ich nie erlebt", sagt Jan Leidel.
Besonders hartnäckig hält sich das Argument, dass durch eine Masern-Impfung Autismus ausgelöst werden kann - obwohl es bereits durch mehrere Untersuchungen widerlegt wurde. Der britische Arzt Andrew Wakefield, der diesen Zusammenhang 1998 herstellte, musste seine damalige Studie wegen Fälschungsvorwürfen zurückziehen und verlor sogar seine Approbation. Doch im öffentlichen Bewusstsein besteht bei vielen Impfkritikern weiterhin die Meinung "Masernimpfung gleich Autismus".
Die Gesundheitspsychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt erklärt dieses Verhalten mit einem typisch menschlichen Wahrnehmungsmuster: Wir nehmen eine Warnung ernster als eine Entwarnung. Und wir neigen generell eher dazu, ein einzelnes Schicksal, etwa den Bericht über einen Impfschaden oder gar einen Todesfall, als Maßstab zu nehmen als Statistiken, die zeigen, dass das Impf-Risiko gering einzuschätzen ist.
Dabei liegt bei Masern die Gefahr, an einer Hirnhautentzündung, die zu schlimmen geistigen Schädigungen, in manchen Fällen sogar zum Tod führen kann, bei 1 zu 1000. Bei geimpften Kindern tritt dieser Fall allerdings nur im Verhältnis von eins zu einer Million auf.
"Was wir nicht vergessen dürfen: Alles, was einem ungeimpften Kind widerfahren kann, kann auch einem geimpften passieren", sagt Jan Leidel. Es sei schwierig zu entscheiden, ob eine Krankheit nur ein zufälliges zeitliches Zusammentreffen mit einer Impfung ist oder ob es einen ursächlichen Zusammenhang gebe.
Sind alle Impfungen gleich wichtig?
Alle von der Stiko empfohlenen Impfungen haben ihre Berechtigung. Dennoch könne man Abstufungen vornehmen, sagt Jan Leidel. "Die Rotavirus-Gastroenteritis - eine Brechdurchfallerkrankung (die häufigste meldepflichtige Erkrankung bei Kindern unter fünf Jahren) - ist in der Regel nach 14 Tagen auskuriert. Sie ist jedoch hochansteckend und die Hälfte der Erkrankten muss im Krankenhaus behandelt werden. Auch über Hepatitis B wird viel diskutiert, weil es eine überwiegend sexuell übertragbare Infektion ist und Eltern es nicht einsehen, ihren Säugling zu impfen. Das kann ich nachvollziehen und es ist auch nicht unvernünftig. Wir impfen die Kinder dennoch so früh, weil dann die Impfung am besten wirkt."
Sollten sich auch Erwachsene gegen sogenannte Kinderkrankheiten impfen lassen, wenn ihr Impfschutz nicht komplett ist?
Manche Impfungen sollte man durchaus als Erwachsener nachholen. Denn auch wenn "Kinderkrankheiten" meist unauffällig verlaufen: harmlos sind sie nicht. "Das sind Krankheiten, die sehr häufig vorkommen - deswegen macht man sie schon früh durch. Außerdem müssen sie eine Immunität hinterlassen, sodass man sie später nicht noch einmal kriegt. Werden sie selten, sind sie keine Kinderkrankheiten mehr", erklärt Jan Leidel. Das Durchschnittsalter bei Keuchhusten liege inzwischen bei 42 Jahren, deutschstämmige Masernkranke seien im Schnitt 22 Jahre alt.
Eine Garantie, sie unbeschadet zu überstehen, gibt es ebenso wenig. Manche Folgen der Erkrankungen machen sich erst Jahre später bemerkbar, wie etwa Fruchtbarkeitsstörungen bei Jungen, die während der Pubertät oder als junge Erwachsene unter Mumps litten. Hier liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Mumps-Viren auf die Hoden übergreifen und so zur Sterilität führen, bei 30 Prozent.
Allen nach 1970 geborenen Erwachsenen, die entweder noch nie oder nur einmal in der Kindheit gegen Masern geimpft wurden oder die dies nicht wissen, wird daher eine Kombiimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln empfohlen. Das Gleiche gilt für Tetanus, Keuchhusten, Diphterie und Kinderlähmung.
Durch die aktuellen Todesfälle gerät die allgemeine Impfpflicht in den Fokus der Politiker. Eine gute Idee?
"Wir sollten unsere Impfquoten unbedingt erhöhen, aber ich halte die Impfpflicht für keine geeignete Maßnahme dazu", sagt Jan Leidel. Diese würde unentschlossene Eltern eher noch abhalten, ihr Kind impfen zu lassen. Ein verpflichtendes Beratungsgespräch hält er zwar für sinnvoll, doch allzu viel dürfe man auch nicht davon erwarten, denn "impfkritische Eltern suchen sich in der Regel einen impfkritischen Kinderarzt."
Ein weiterer Knackpunkt: Die derzeit diskutierte Impfpflicht bezieht sich auf Kleinkinder - dabei sind nicht sie das Hauptproblem, sondern die nicht geimpften Jugendlichen und jungen Erwachsenen. "Das bekommen wir mit einer Impfpflicht nicht in den Griff. Die Bundesländer sind beim Thema Impfen ganz unterschiedlich aufgestellt. Ich würde mir mehr Koordination und weniger Hürden wünschen", so Leidel.
Es scheitere an vielen Kleinigkeiten - etwa daran, dass ein Frauenarzt abgemahnt wird, wenn er einen Mann impft. Und das, obwohl laut Stiko jeder Arztbesuch dafür genutzt werden sollte, Impflücken zu schließen. Solch rechtliche und bürokratische Schwierigkeiten gehören Jan Leidel zufolge beseitigt. "Wir müssen die Sorgen der Skeptiker ernst nehmen, intensiver informieren und aufklären - und zwar transparent und nachvollziehbar."