Gehirn im Bauch
Über zwanzig Prozent aller Deutschen leiden mehr oder weniger häufig und stark an brennenden, krampfartigen Schmerzen im Oberbauch. Wenn die Beschwerden länger als vier Wochen anhalten oder nach dem Abklingen immer wieder auftreten, der Arzt aber nichts finden kann, dann spricht man von einem Reizmagen oder einer funktionellen Dyspepsie. Bei einem Drittel der Patienten spielt außerdem noch der Darm verrückt. Abwechselnd werden sie von Verstopfungen und Durchfall gepeinigt.
Ausgelöst wird dieses Chaos durch eine Art Gehirn im Bauch. Das "Bauchhirn" oder enterische Nervensystem (ENS), ein Netzwerk aus über 100 Millionen Nervenzellen, umspannt den gesamten Bauchraum und hüllt Magen und Darm ein. Weitgehend unabhängig von der Kopfzentrale kontrolliert es - ähnlich wie ein Computer - den Verdauungsprozess: Sobald zerkleinerte Brotbrocken, Tomatenstücke oder Gummibärchen ihre Reise durch den Verdauungstrakt antreten, übernehmen komplexe, in unserem Bauchcomputer gespeicherte Programme die Reiseleitung. Bei einem großen Teil der Reizmagen-Patienten arbeitet diese Computersoftware nicht mehr optimal. Die Bewegungsabläufe in Magen und Darm sind gestört: Die Nahrung bleibt zu lange im Magen liegen oder verteilt sich dort falsch. Anstatt sich zuerst im vorderen Abschnitt zu sammeln und dann langsam weiterzuwandern, stauen sich Käsekuchen und Krabbensalat gleich am Magenausgang (Antrum) und dehnen ihn auf. Direkte oder indirekte Folge können dann unter anderem quälende Bauchschmerzen sein. Denn Reizmagen-Patienten reagieren im Vergleich zu Gesunden im Bauchraum wesentlich schmerzempfindlicher auf Unregelmäßigkeiten. So haben Tests ergeben, dass sie einen im Magen aufgepusteten Ballon bereits in einer Größe spüren, die von Gesunden noch nicht wahrgenommen wird. Aber warum ist bei manchen Menschen die Reizschwelle für Schmerzen so niedrig? Warum spielt bei ihnen das Bauchhirn verrückt und bei anderen nicht?
Ursachen
Darüber gibt es viele Vermutungen und wenig gesicherte Erkenntnisse. Als eine von mehreren möglichen Ursachen eines Reizmagens wird auch immer wieder eine Infektion mit dem Bakterium Heliobacter pylori diskutiert. Schließlich ist das Heliobacter pylori verantwortlich für über 80 Prozent aller Gastritisfälle und Geschwüre in Magen und Zwölffingerdarm. Zwar wird nicht jeder, in dessen Magen sich Heliobacter aufhält, auch wirklich krank. Doch eine erst kürzlich abgeschlossene Studie zeigte, dass fast ein Viertel der Reizmagen-Patienten, bei denen Heliobacter nachweisbar war, von einer Antibiotikatherapie profitieren können. Immerhin ein Hoffnungsschimmer.
Ist Heliobacter nicht die Ursache, lohnt es sich, über Lebens- und Essgewohnheiten nachzudenken. Wer sich unregelmäßig und ständig unter Zeitdruck von Junk-Food wie Hamburgern und Currywürsten ernährt, der muss damit rechnen, dass der Magen Alarm schlägt. Einen ähnlichen Effekt können Belastungen im Alltag haben. Fast jede hat schon mal am eigenen Leib erlebt, wie sehr ein heftiger Streit mit der besten Freundin oder die Angst vor einer Prüfung auf den Magen schlagen kann.
Psyche und Verdauung
Studien haben bewiesen, dass es tatsächlich ein Zusammenspiel zwischen Psyche und Verdauungssystem gibt. Ob aus der spontanen Rebellion im Bauch auch ein Reizmagen werden kann, ist zwar noch nicht belegt, aber sicher ist, dass Belastungen die Beschwerden zumindest verschlimmern können.
Tatsächlich arbeiten die beiden Gehirne in Kopf und Bauch nicht ganz unabhängig voneinander. Sie stehen unter anderem per Kabel, dem Vagusnerv, miteinander in Verbindung. Beide Gehirne verhalten sich wie siamesische Zwillinge: Muss einer leiden, geht es häufig auch dem anderen nicht besonders gut. Wenn das zum Dauerzustand wird, sollten Sie unbedingt einen Arzt aufsuchen. Unabhängig vom Schweregrad der Symptome kann sich dahinter immer eine ernsthafte organische Erkrankung des Magens verbergen. "Zu uns kommen manchmal Patienten mit einem großen Magengeschwür, das lange Zeit verhältnismäßig wenig Beschwerden verursacht hatte. Patienten schoben die leichten Schmerzen lediglich einem nervösen Magen zu", sagt Dr. Tammo von Schrenck von der Universitätsklinik Eppendorf, "andere dagegen haben nur einen Reizmagen und krümmen sich vor Schmerzen."
Therapien
Auch wenn über die Ursachen noch spekuliert wird, gibt es Mittel und Therapien gegen den Reizmagen. Um die Beschwerden erheblich zu lindern, haben sich alle Maßnahmen bewährt, die Druck und Reize auf den schmerzempfindlichen Magen reduzieren, zum Beispiel mit Hilfe von Prokinetika, die der Arzt verschreiben kann. Diese Arzneimittel regen die Magenbewegung an und verhindern so den Nahrungsstau. Den Druck auf Ihren Magen können Sie auch vermindern, wenn Sie üppige Mahlzeiten vermeiden und dafür lieber mehrere kleine Portionen über den Tag verteilt zu sich nehmen. Reizarme Kost wie Karotten, Kartoffelpüree oder Haferflocken sind besser als fette Braten. Verzichten Sie auf alles, was den Bauch aufbläht, zum Beispiel Kohl und Hülsenfrüchte, oder was die Schleimhäute reizt wie scharfe Gewürze, Alkohol, Kaffee und Zigaretten. Eine australische Studie machte besonders das Rauchen und die regelmäßige Aspirineinnahme als Risikofaktoren aus.
Lindernd wirken die Heilpflanzen Kamille, Schafgarbe, Pfefferminze und Fenchel. Diese Pflanzen besitzen Inhaltsstoffe, die entkrampfend auf Magen und Darm wirken. In entsprechender Qualität gibt es sie in der Apotheke. Am besten helfen sie, wenn man sie, als Tee zubereitet, möglichst lauwarm vor dem Frühstück trinkt. Gut tut bei krampfartigen Beschwerden Wärme auch von außen: zum Beispiel eine Wärmflasche oder feuchtwarme Wickel.
Und machen Sie Schluss mit der permanenten Hetze, damit Ihnen Stress erst gar nicht auf den Magen schlagen kann. Gönnen Sie sich öfter mal eine Pause. Vielleicht kommt Ihr Bauchhirn dann wieder zur Vernunft.