Es gibt Kleidungsstücke, in die man sich derart schockverknallt, dass sofort klar ist: Wir gehören zusammen, das mit uns ist etwas ganz Besonderes. Wie vergangenen Sommer bei mir und meinem "Tipi", einem fast bodenlangen Oversized-Kleid, nicht unähnlich einem Fünf-Personen-Zelt. Und dann diese Farbe! Ein sanftes Mintgrün, wie eine ganz seltene Tiefseepflanze. Es hatte etwas Eigensinniges, beinahe Komisches: So viel Stoff braucht kein Dreimaster für seine Segel. Und ob ich darunter eventuell Achtlinge austrug, blieb unser voluminöses Geheimnis. Dieses Kleid war einen ganzen Pandemiesommer meine stylishe Herberge, aber wir waren mehr als eine Wohngemeinschaft – bis vor Kurzem war es die ganz große Liebe.
Bis, ja, bis uns mit nur einem Satz die rosarote Brille heruntergerissen wurde: "Mit dem Ding läuft ja jetzt auch jede rum, oder?", kommentierte eine Bekannte unseren rauschenden Auftritt beim sonntäglichen "Walk and Talk", wie Spaziergänge dank Corona neuerdings genannt werden. Ich konnte fühlen, wie sich die zehn Meter supersustainable Biobaumwolle hilfesuchend an mich drückten. "Hm, echt? Ist mir noch gar nicht so aufgefallen", versuchte ich die Exklusivität unserer Beziehung zu retten. Denkste! Egal wo mein Kleid und ich fortan unsere Zelte aufschlagen wollten – überall war schon eine mintgrüne Siedlung errichtet worden. Und die Bewohnerinnen waren sich nicht gerade wohlgesonnen.
Die Bilanz eines Samstags im Park: mindestens acht abschätzige "Ach, du also auch!"-Blicke. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass mein mintgrüner Tipi dasselbe Schicksal erleiden würde wie der blaue Pullover von Meryl Streep als semifiktive "Vogue"-Chefredakteurin in "Der Teufel trägt Prada": Ein neues Design verliert seinen Zauber, sobald es zur Massenware degradiert und die originelle Idee dahinter vergessen wird. Wie einst der blaue Pull-over war auch mein Kleid einmal einem genialen Modeschöpferhirn entsprungen. Ich hatte es zwischen all den anderen Kleidern entdeckt, und ich war mit Sicherheit die Erste, die es angemessen zu würdigen wusste. Bloß: Genau das dachten die anderen Tipi-Bewohnerinnen auch. So unterstellten wir uns nun mit spitzen Blicken gegenseitig modische Blasphemie.
anz vom Glauben an die große Fashionliebe fällt frau aber aus einem anderen Grund ab, wenn das neue Lieblingsteil an anderen aufploppt: Der eigene Stil ist etwas sehr Persönliches. Manchmal verbringt man Jahrzehnte auf vielen verrückten Irrwegen, bis man ihn endlich gefunden hat – und mit ihm das herrliche Gefühl, bei sich angekommen zu sein. Diese Stoff gewordene Individualität gilt es zu beschützen. Das ist verständlich. Aber muss es in Missgunst münden?
Am Ende fühlt sich das für niemanden schön an und war bestimmt auch nicht im Sinne des Erfinders. Ich blinzle ab sofort freundlich aus meinem Tipi heraus und nicke anerkennend, wenn mir eine Doppelgängerin über den Weg läuft. Wir wissen eben beide gutes Design zu schätzen und gönnen uns das unschlagbare Gefühl, sich in einem Kleidungsstück so wohlzufühlen, dass man darin wohnen möchte.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Guido Heft Nr. 07/2021.