Viele Jahre lang besaß ich nur zwei paar Jeans, damit ich ein Paar tragen konnte, während ich das andere in die Wäsche steckte. Daneben das Nötigste an Hemden und anderen Kleidungsstücken. Männerkleidung fand ich todlangweilig. Und ich war Mann. Das fand ich im Grunde deprimierend, denn Männer und das Mannsein konnte ich schlecht verstehen. Ich wäre doch viel lieber Frau.
Allerdings habe ich mir diesen Wunsch damals nicht wirklich eingestanden – meine diesbezüglichen Fantasien nahm ich nie so recht ernst. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich nun mal Mann bin.
Meine "Wechseljahre"
Mit Mitte 50 begann ein Wandlungsprozess – meine "Wechseljahre". Ich war damals an der Organisation von Kleidertauschveranstaltungen beteiligt. Nach jeder Veranstaltung blieben viele Kleidungsstücke übrig – meist Frauenkleidung, da vor allem Frauen teilnahmen. Ich war öfters alleine mit dem Aufräumen beschäftigt.
Bald beichtete ich meiner Frau, dass ich Frauenkleider tragen will. Sie merkte, wie wichtig das für mich war, und unterstützte mich.
Zuerst trug ich Frauenkleidung nur Zuhause

Zuerst trug ich Frauenkleidung nur Zuhause. Doch sehr bald war das nicht mehr genug. Ich fühlte mich einfach nicht wohl in Männerkleidung, und es machte so viel Spaß, verschiedene Farben, Stoffe und Schnitte anzuprobieren. Zunächst begann ich unter Freunden, dann auch in aller Öffentlichkeit und schließlich auch bei der Arbeit (dort gab es dankenswerterweise nie Probleme), mich darin zu zeigen. Ich habe Frauenkleidung getragen, die ich bequem fand und die mir gefiel. Ich habe nicht versucht, wie eine Frau auszusehen. Frauen haben es sich doch schon längst erkämpft, Männerkleider tragen zu dürfen – warum sollen Männer nicht auch Frauenkleider tragen dürfen?
Den Männern unter den Leser:innen möchte ich vorschlagen, selbst mal ein paar als Frauenkleider definierte Teile anzuprobieren und öffentlich zu tragen! Warum sollen Männer sich diese vielen schönen Möglichkeiten verkneifen?

Ich habe nichts Schlimmes erlebt und höre gelegentlich sogar bewundernde Kommentare auf der Straße. Zuletzt vor wenigen Tagen: Als ich in gemustertem Wickelrock bei der Bank war, hat mich eine andere Kundin anerkennend angelächelt und gesagt, "Sieht schön aus!" Ich lebe in Mannheim, sicher nicht die konservativste Stadt Deutschlands, aber auch anderswo habe ich gute Erfahrungen gemacht in Rock oder Kleid. Einmal, als ich im Breisgau übernachtete, hat mich die Besitzerin des kleinen Hotels auf meinen Rock angesprochen. Sie hat Verbindungen nach Hawaii, wo Männer sich auch in Röcken kleiden, und fand es so schön, dass auch in Deutschland ein Mann Rock trägt. Auch im Bekannten- und Freundeskreis habe ich sehr viel Unterstützung erlebt.
Ich fing an, meine eigene Mode zu schneidern
Meine neu entdeckte Freiheit, Frauenkleider zu tragen, nutze ich nun dazu, meine eigenen Kleider zu nähen und zu gestalten. Anfangs habe ich vorwiegend Kleider aus dem Kleidertausch oder Secondhand-Kleider geändert oder upgecycelt, doch bald nähte ich komplette Kleidungsstücke selbst. Ich kaufe vorwiegend Baumwolle oder Leinen aus nachhaltiger Produktion, farbenfroh, aber nie in Primärfarben – das erlaubt vielfältige Kombinationsmöglichkeiten zu verschiedenen Outfits. Ich verwende relativ einfache Schnitte und ziele dabei auf ein zeitloses Design, das ich lange tragen kann.
Aus Wolfgang wurde Wiltrude
Durch meine Kleidung veränderte ich auch mich selbst. Kleider machen nun mal Leute – nicht nur als Zeichen des gesellschaftlichen Status, sondern weil man anderen Menschen durch die Kleidung viel über die eigene Persönlichkeit mitteilt. Das beeinflusst wiederum das Selbstverständnis. In meinem Fall reichte es mir bald nicht mehr, Frauenkleider zu tragen, sondern mir wurde bewusst, dass mich die Identität als "Mann" belastet, dass ich mich innerlich als Frau fühle und ich nur als Frau wirklich glücklich sein kann. Also legte ich mir den Namen Wiltrude zu und bat immer mehr Menschen, mich mit diesem Namen anzusprechen.

Es geht mir dabei nicht darum, was ich mache oder tue. Schließlich kann man, egal welchem Geschlecht man angehört, alles tun, was legal ist. Und als Feministin teile ich die Auffassung, dass Frauen nicht abverlangt werden darf, "feminin" zu sein. Es geht mir um das Sein. Ich fühle mich als Frau – genau erklären kann ich das selbst nicht. Wenn ich mich als gefühlte Frau zu erkennen gebe, fühle ich mich freier, zu tun, was ich will. Da mein Körper aber männlich ist, kann ich mein gefühltes Frausein nur kenntlich machen, indem ich durch Kleidung oder Frisur eindeutige Zeichen setze. Das sind einerseits Äußerlichkeiten. Allerdings kann man sich nur über Äußerlichkeiten anderen Menschen mitteilen. Deswegen sind sie eng mit dem inneren Sein verknüpft.
Ich kann auch besser auf andere Menschen eingehen – auch und vor allem auf meine Ehefrau und Lebenspartnerin. Meine Veränderung hat sich deshalb sehr positiv auf unsere Beziehung ausgewirkt, und ich bin meiner Frau sehr dankbar, wie sie mich unterstützt!
Inzwischen habe ich einen Kleiderschrank mit wesentlich mehr Kleidungsstücken, als ich unbedingt brauche, und morgens habe ich die Qual der Wahl, was ich anziehen soll. Die Zeiten der zwei Paar Jeans liegen lange zurück. Am wichtigsten ist aber, dass ich mich in meiner Kleidung frei und wohl fühle und mich des Lebens freue!
Die Autorin: Wiltrude Höschele ist Geografin, die einen großen Teil ihres Lebens als Junge bzw. Mann in Thailand, Korea, Griechenland und den USA verbracht hat und nun in Mannheim lebt. Beruflich befasst sie sich mit der sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft. Weitere Infos unter whoeschele.de