GUIDO: Liebe Claudia, ich freue mich sehr, dass wir uns treffen! Ich schätze dich nicht nur als Mensch so unheimlich – du bist auch für viele modeaffine Menschen ein Vorbild, denn du hast gezeigt, dass es in der Politik auch anders geht.
Claudia Roth: Das stimmt! Früher mussten sich Frauen in Kostüm oder Hosenanzug zwängen, um von den männlichen Kollegen anerkannt zu werden.
Für mich bist du die Jeanne d’Arc der modischen Befreiung! Wann kam der Moment, an dem du dachtest: So, Freunde, jetzt bin ich ganz emanzipiert. Was hat dich inspiriert?
Es gab gar nicht den einen Moment. Zum einen hatte ich das große Glück, eine Mutter zu haben, die sehr unabhängig, unfassbar elegant und modeaffin war. Und ich hatte eine Oma, die mich bedingungslos unterstützt und geliebt hat. Ich fand es schon früh toll, anders zu sein, mich abzuheben. Als die Mini-röcke aufkamen, ich war 14 oder 15, trug ich die kürzesten Röcke, den längsten Mantel und hohe Stiefel. Kurz nach ’68 trug ich ein Jahr lang knall-enge Feincordhosen. Das war damals natürlich auch Provokation im Lodenmantel geschwängerten Bayern. Ich wollte gesehen werden.
Ich habe häufig gedacht, wenn ich dich später bei deinen Auftritten gesehen habe, dass du gut verstanden hast, dass Kleider auch Rüstung sind. Hast du ein Allzweckoutfit für schwierige Situationen?
Ich überlege mir schon jeden Tag, was heute auf mich zukommt, und drücke mit meiner Kleidung immer irgendwas aus: Trauer, Freude, Widerspruch, Angriff …! Ich hatte lange einen bodenlangen roten Kampfmantel und einen orangefarbenen Strickmantel mit Riesenkragen, die ich viel getragen habe. Da gab es schon Kollegen, die meinten: »Um Gottes willen!«. Vor Kurzem, bei der Listenaufstellung der bayrischen Grünen, habe ich ein weißes Kleid getragen, das ein bisschen glitzert. Ich glaube, das kam gut rüber. Es war outspoken, aber nicht aggressiv, eher integrativ, ein Kleid, das sagt: Hallo, ich kandidiere für und mit euch! Was wirklich gar nicht mehr geht, sind hohe Schuhe.
Ach, ich finde Bodenkontakt auch gar nicht so verkehrt. Es heißt ja immer, der Gang ändert sich mit hohen Schuhen. Aber ich glaube, wenn man genug Persönlichkeit hat, ist das ziemlich egal.
Ich trage seit einiger Zeit ziemlich schicke weiße vegane Turnschuhe, die hat mir mein Team empfohlen. Auf die werde ich oft angesprochen.
Was bedeutet nachhaltige Mode für dich?
Für mich besteht der Wert eines Kleidungsstücks im Material und der Produktion als solcher. Ich achte darauf, wo die Stoffe herkommen, kaufe keine Fast Fashion. Mir ist extrem wichtig, dass die Produktion nicht auf ausbeuterischen Verhältnissen beruht. Mein Großvater pflegte immer zu sagen: „Wir sind nicht so reich, als dass wir uns was Billiges leisten könnten.“
Du warst mal Managerin des Sängers Rio Reiser und seiner Band Ton Steine Scherben. Das war in den 80ern die linkspolitische Kultband. Wie kamst du eigentlich von dort zu den Grünen?
Ich hatte schon immer das Bedürfnis, etwas zu verändern. Rein und machen. 1985 im Sommer hatten die Grünen eine Ausschreibung für eine Pressesprecherin, sie wollten explizit eine Frau. Unser Bassist Kai hat die Ausschreibung dann kurzerhand ausgependelt und festgestellt: Das ist dein Job, da musst du dich bewerben! Ich wusste gar nicht, wie das geht – bewerben. Und ich erfüllte keines der Kriterien, außer Frau. (lacht)
Haben Rio Reiser und Marianne Rosenberg dir dann Zeugnisse ausgestellt für die Unterlagen …?
Das haben wir tatsächlich diskutiert. Letztendlich habe ich dann einfach aufgeschrieben, wie ich das so sehe mit den Grünen, und auf zehn Seiten erklärt, was man besser machen kann. Dann wurde ich tatsächlich eingeladen und bin im schwarzen Lederlook zum Vorstellungsgespräch. Mit Stiefeletten mit Strasskettchen…
Echt? Wie die Pop-Ikone Jennifer Rush!
Es war gerade meine Lederphase. Das Gespräch lief allerdings katastrophal, und danach habe ich mir erst mal zusammen mit einem Freund bei Ikea an der Autobahnausfahrt den Luxus jener Tage geleistet: einen Krabbencocktail für fünf Mark. (lacht)
Aber sie haben dich dann eingestellt! Lustige Geschichte, vor allem das mit dem Auspendeln.
Als ich damals auf Ibiza meinen ersten großen Auftrag im Ausland bekommen hatte, gaben meine Hippiefreunde mir einen großen steinernen Ganesh, den hinduistischen Gott, mit, der Glück und Geld bringen sollte. Ich bin dann mit diesem Riesending in der Tasche losgeflogen! Aber zurück zu dir und deiner Moderevolution im Bundestag. Ich war vorher lange im Europaparlament in Brüssel gewesen, 1998 nominierten die bayrischen Grünen mich für den Bundestag, dann kamen wir in die Regierung. Als ich 2001 Parteivorsitzende wurde, fragte mein Kollege Fritz Kuhn mich ernsthaft, wie es denn jetzt mal mit einem Kostüm wäre, ein bisschen gedämpftere Farben und so. Meine Antwort: Da kannst du lange drauf warten!
Dein Look hat auch immer polarisiert, und du warst des Öfteren mal Häme ausgesetzt. Wie hast du das ausgehalten?
Wenn ich mich gut fand und wenn ich wusste, meine Liebsten finden das auch, allen voran meine Mama, dann war ich in mir zu Hause. Zu meiner schönen, edlen Manteljacke, beige mit großen roten Blumen, hat die AfD sogar mal eine Presseerklärung gemacht. Sie fanden, mein Outfit sei eine Entwürdigung des Bundestages und zeige den Verfall von Sitten und Selbstdisziplin. Ich glaube ja, dass es viele Menschen gibt, die genau dieses Expressive an dir lieben, die sind nur leiser.
Was war eigentlich das schönste Kompliment, das dir je einer gemacht hat?
Das war: Was Sie jetzt sagen, teile ich nicht, aber Ihnen glaube ich jedes Wort! Sie meinen, was Sie sagen. Und das finde ich eigentlich das Beste, authentisch bleiben und sagen, was man denkt.
Kriegt man das in der Politik immer hin?
Ich habe es versucht. Ich wollte mir in all den Jahrzehnten immer treu bleiben. Das bedeutet, auch mal einen rauszuhauen, aber immer morgens in den Spiegel gucken zu können. Ich geb’s zu, das ist manchmal sehr schwer, vor allem wenn du in der Regierungsverantwortung bist. Aber ich hab’s wirklich versucht.
Und du musstest in deiner Position auch lernen, Kontroversen auszuhalten, manchmal nahezu Unerträgliches. Das geht nur durch innere Größe, oder? Was hat dich da geprägt?
Für mich war es sehr wichtig, dass ich ein Leben vor der Parteipolitik hatte. Ich habe davor unglaublich viel gelernt, zuallererst bei meinen radikal demokrati-schen Eltern und dann in der Zeit mit Rio Reiser. Er hat einen Song gemacht, „Ich will ich sein“. Darin heißt es, ich will sagen, was ich sagen will, singen, was ich singen will, und lieben, wen ich lieben will. Dieses sich selber zu finden, bei sich zu sein und zu sagen: Ich werde einen Teufel tun und mich anpassen, das hat mich sehr geprägt. Und außerdem meine Oma, die immer gesagt hat: Mir kann es doch nicht gut gehen, wenn es meinem Nachbarn schlecht geht.
Nächstenliebe.
Ja, ganz genau: Nächstenliebe. Mein Motiv, in die Politik zu gehen, war schon immer, gegen die Ungerechtigkeit in der Welt anzugehen. Ich will, dass sich Menschen nicht zufriedengeben, dass Veränderung möglich ist. Meine Eltern haben immer gesagt: Mecker nicht rum, mach was! Aber bilde dir erst mal deine eigene Meinung. Und wenn du dich einmischst, wundere dich nicht, wenn du auch heftigen Gegenwind bekommst.
Und den hast du ja nun wirklich bekommen.
Stimmt, aber von konstruktivem Streit lebt unsere Demokratie. Ganz anders, was ich seit 2015 erlebe: Seit der Entstehung von Pegida haben Hass und Hetze gegen mich extrem zugenommen. Morddrohungen, ekelhaftester Rassismus und sexualisierte Gewaltfantasien, eine ganz neue Qualität.
Es gab doch den Mann, der 1920 Euro zahlen musste, weil er dich verbal so beleidigt hat. Das habe ich nie vergessen. Du bist aufgestanden und hast es durchgezogen! Aber da kann man auch echt Angst bekommen.
Ja, aber solchen Leuten schenke ich meine Angst nicht! Ich weiß, dass Menschen in unserem Land Angst haben, und zwar zunehmend. Schwarze, Muslime, Juden, Roma, Homosexuelle. Die Stimmung hat sich so dermaßen verschärft, das darf man nicht still hinnehmen. Ich führe solche Prozesse auch stellvertretend für all jene, die nicht die Möglichkeiten haben, sich zu wehren.
Du hast in deiner Karriere ja irre viele tolle Menschen getroffen. Gibt es Begegnungen, die ganz besonders in dir nachhallen?
Ja, mit dem Dalai Lama. Ich habe das vorher auch nicht geglaubt, aber wenn er den Raum betritt, fängt wirklich die Sonne an zu scheinen.
Das gilt auch für dich, liebe Claudia! Eine allerletzte Frage: Was möchtest du nie erleben?
Einsamkeit. Die macht dich krank. Ich habe die ersten Monate im Lockdown gemerkt, dass da was mit mir passiert. Ich habe das Zuhause nicht mehr als Ort genossen, an dem ich runterkommen kann, wo du den Trubel hinter dir lässt, plötzlich war da Einsamkeit. Und das ist irritierend und fängt an wehzutun. In der Zeit hat mir mein guter Freund, der Pianist Igor Levit, mit seinen digitalen Hauskonzerten geholfen. Ich habe mich jeden Abend schön angezogen, geschminkt und mir die Konzerte vor dem iPad angehört. Er war damit Lebensretter, nicht nur für mich.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Guido Heft Nr. 07/2021.