Ob Titanic , Pearl Harbour oder P.S. Ich liebe dich - ich bin nicht der Typ, der im Kino schluchzend nach Taschentüchern greift. Nicht falsch verstehen, Liebesfilme gehen mir sehr ans Herz, aber Tränen verdrücke ich wenn überhaupt nur zu Hause vorm Fernseher, wenn ich alleine bin und mich niemand sieht. 30 Jahre lang habe ich mir also nichts anderes im Kino von der Wange gewischt als Popcornreste - und die Mascara war beim Abspann niemals verwischt. Aber wie sagt man: Es gibt für alles ein erstes Mal.
Schon als ich mir den Trailer zu "Ein ganzes halbes Jahr" anschaute, war ich gespannt auf die Story: Die quirlige Louisa (Emilia Clarke) nimmt wegen Geldsorgen einen Job als Pflegekraft an. Sie soll den lebensmüden Will Traynor (Sam Claflin) aufmuntern , der nach einem Unfall halsabwärts fast vollständig gelähmt ist. Nur mit viel Mühe und Durchhaltevermögen schafft sie es, eine Bindung zum ehemaligen Banker aufzubauen. Sie will ihn überzeugen, dass es sich lohnt, weiterzuleben - und verliebt sich dabei in ihn.
Nun gibt es ja Filme, die haben mit der Buchvorlage ungefähr so viel gemeinsam wie Sommer und Winter. "Ein ganzes halbes Jahr" aber bleibt in vielen Szenen nahe am Bestseller von Jojo Moyes - denn sie hat auch das Drehbuch geschrieben. Mein erster Gedanke im Kino war allerdings: Mhm, bisschen überzogen, das Ganze. Game of Thrones-Star Emilia Clarke erinnert in ihrer Rolle als Namensvetterin Louisa Clark nämlich irgendwie an Theater: Manchmal verzieht sie die Mundwinkel so weit nach hinten, als wolle sie ihre Ohren damit putzen. Doch binnen weniger Minuten hatte ich mich daran gewöhnt - und ich war drin im "Hach, das ist doch großes Kino"-Modus.
Scharfe Kritik bei der Filmpremiere
Mir war allerdings auch von Anfang an bewusst, dass der Film ein heikles Thema behandelt. Bei seiner Premiere in London wurde der Film von Menschen mit Behinderung scharf kritisiert: Er tue so, als sei das Leben eines Menschen im Rollstuhl nicht lebenswert. Die Kritik mag berechtigt sein, allerdings kommt man während des Films nicht umhin, sich selbst die Frage zu stellen: Wie viel Lebensmut hätte ich noch an Wills Stelle? Man nimmt es ihm einfach ab, wenn er erzählt, wie sinnlos ihm das Leben vorkommt, weil er nichts mehr von dem tun kann, was ihn ausgemacht hat. Und es schnürt einem schier die Luft ab, wenn man sich nur kurz vorstellt, in seiner Situation zu sein. Genau das ist es, was Empathie weckt und diese große Emotionalität in den Film bringt.
Was viel auffälliger ist - und ebenfalls kritisiert wurde - ist die teils unrealistische Darstellungsweise des Lebens als Tetraplegiker (ein Querschnittsgelähmter, bei dem Arme und Beine betroffen sind). Will Traynor sitzt wie ein Adonis in seinem Rollstuhl, der Oberkörper muskulös und trainiert, so als würde er dreimal die Woche im Fitnessstudio Gewichte stemmen. Man sieht, wie er gefüttert wird - aber Szenen wie Katheter wechseln, waschen, Physiotherapie oder andere medizinische Maßnahmen kommen so gut wie gar nicht vor. Vielleicht, weil die Autorin nicht die Krankheits-, sondern die Liebesgeschichte in den Vordergrund stellen möchte.
Liebe, Schmerz - und eine Träne!

Die Love-Story funktioniert ziemlich gut - weil man schnell das Gefühl hat, dass Lou und Will füreinander bestimmt sind. Sein Sinneswandel, nach anfänglicher Ablehnung doch mit Lou zu reden, passiert im Film zwar für meinen Geschmack etwas zu schnell (im Buch ist dieser Prozess länger und deshalb realistischer), die innigen Berührungen, verträumten Landschaften, Ed Sheerans Lovesong "Photograph" und die knapp am Kitsch vorbeigeschlitterten Dialoge sind dann aber genau das, was die Romantiker unter uns sehen wollen. Bis auf wenige Ausnahmen scheint alles stimmig, man kann sich ganz der Story hingeben. Ein Liebesfilm durch und durch.
Und im letzten Drittel der Handlung passierte es dann auch: In einem besonders emotionalen Close-Up, in der sich Lou und Will lange und intensiv in die Augen sehen und man seine Verzweiflung quasi mitfühlen kann, rollte mir eine dicke, feuchte Träne über die Wange. In diesem Moment wusste ich: Der Film wird eine gute Kritik von mir bekommen. Schon allein, weil er geschafft hat, was noch kein anderer vor ihm tat. Und weil Emilia Clarke und Sam Claflin in den Hauptrollen einfach überzeugend sind - übrigens auch Wills Eltern, gespielt von Janet McTeer und Charles Dance sowie Steve Peacocke, den man in der Rolle als Physiotherapeuten "Nathan" sofort ins Herz schließt.
Ich bin gespannt, ob "Ein ganzes halbes Jahr" jetzt bei mir das Eis gebrochen hat und ich mich künftig im Kino mit einigen Paketen Taschentüchern ausrüsten muss. Vielleicht aber wird er auf ewig der einzige Film bleiben, der mich im Kinosessel zum Weinen brachte. Na gut, wär' auch kein Drama, dann bleibt wenigstens die Mascara in Form ...
Filmstart: 23. Juni 2016