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Kinotipp "Die Linie" Wenn Frauen zuschlagen

Hassliebe verbindet: Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi, li.) und Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud)
Hassliebe verbindet: Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi, li.) und Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud)
© Piffl Medien
Es ist ein großes Tabu: gewalttätige Frauen. Die französisch-schweizerische Regisseurin Ursula Meier bricht es in ihrem Familiendrama "Die Linie" mit einem erstklassigen Frauen-Ensemble und großer Intensität.

"Die Linie" ist ein dicker Strich aus hellblauer Farbe, den Marion, 12, um ihr Elternhaus gezogen hat, um ihre Schwester Margaret (Stéphanie Blanchoud) von der Mutter fernzuhalten. Die bereits erwachsene Tochter darf nach richterlicher Anordnung drei Monate lang nicht zu ihr, weil sie diese so heftig geschlagen hat, dass sie halb taub geworden ist. An dieser Bannmeile arbeiten Margaret und ihre Familie sich nun zwölf Wochen lang ab.

Das Drama entfaltet sich in einem Einfamilienhaus in einer winterlichen Vorstadt irgendwo in den Bergen. Christina (Valeria Bruni Tedeschi), alleinerziehende Mutter von drei Töchtern und Pianistin, ist eine Diva, absolut ichbezogen. Sie gibt Margaret, mit der sie jung schwanger geworden ist, die Schuld am Verebben ihrer Pianistinnenkarriere, und das lässt sie die Tochter spüren. Absichtlich lässt Regisseurin Ursula Meier die Verortung des Films im Ungefähren, denn ihr Film soll sich um Gewalt drehen, die von Frauen ausgeht, und nicht um ein bestimmtes Milieu. 

Nach dem Gewaltausbruch aus dem Haus geworfen: Margaret (Stéphanie Blanchoud)
Nach dem Gewaltausbruch aus dem Haus geworfen: Margaret (Stéphanie Blanchoud)
© Piffl Medien

Ein wütender Tanz in Zeitlupe

Schon die lange Eingangssequenz, die die physische Gewalt der Tochter gegen die Mutter zeigt, ist virtuos inszeniert: wie ein Tanz in Zeitlupe, stumm, verbissen, in Momenten auch zart, ein Oszillieren zwischen Hass und Liebe, das den gesamten Film durchziehen wird. Denn im Laufe des Dramas wird die psychische Gewalt der egozentrischen Mutter gegenüber ihren Töchtern nach und nach sichtbar. Alle Nuancen von Feindseligkeit und Sehnsucht klingen im Spiel des großartigen Frauen-Ensembles an. Am Drehbuch haben Ursula Meier und ihre Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud gemeinsam geschrieben, denn weibliche Gewalt ist für beide ein Thema. Schon das erste Theater-Soloprojekt "Je suis un poids plume" ("Ich bin ein Federgewicht") der belgischen Schauspielerin drehte sich ums Boxen, ums Austeilen und Parieren von Schlägen.

Warten an der Linie: Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi, li.) und Tochter Marion (Elli Spagnolo)
Warten an der Linie: Mutter Christina (Valeria Bruni Tedeschi, li.) und Tochter Marion (Elli Spagnolo)
© Piffl Medien

So viel sei noch verraten über diesen fesselnden Frauenfilm, in dem Männer Randfiguren bleiben: Der Schmerz in der dysfunktionalen Familie wird auch nach 103 Filmminuten unauflösbar sein, so wie es auch zwischen realen Müttern und Töchtern ist, wenn die Wut größer ist als das Vergeben und die richtigen Worte fehlen. Was am Ende übrig bleibt, ist Schweigen, Geplapper oder beides. Und darunter der Schmerz.

Die Linie, CH/F/BEL 2022, Regie Ursula Meier, 103 min, Kinostart 18.05.2023

Brigitte

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