Sie weinen vor Rührung, sie schütten sich aus vor Lachen. Sie tanzen vor nach Farben sortierten Buchrücken, verwandeln sich vor laufender Kamera Bild für Bild in eine Romanfigur und lassen dabei in Clips von zehn, 20 Sekunden eines der ältesten Medien der Welt aussehen wie die coolste Sache der Gegenwart: das Buch. "BookTok" heißt die wachsende Community der Lesesüchtigen, unter dem Schirm der Social-Media-App "TikTok" (tiktok.com). BookTok zählt derzeit rund 85 Milliarden Aufrufe weltweit und ist vor allem bei denen beliebt, von denen Verlage und Buchhandel schon befürchteten, sie auf immer zu verlieren: Teenager bis zu Mittzwanzigern.
Kinder der Generation Netflix, die auf einmal das Lesen für sich entdecken. Vorzugsweise Fantasy und "Romance", also romantische Liebesgeschichten mit modernerem Anstrich. Etwa die Storys von Colleen Hoover, die mit "Nur noch einmal und für immer" derzeit ganz oben in der deutschen Bestsellerliste steht.
Bücher und Social Media, das ist schon länger ein Traumpaar – spätestens seitdem Buchblogs oft wichtiger wurden für Autor:innenkarrieren als klassische Literaturkritik und auf Instagram unter dem Hashtag #bookstagram ein Wettbewerb entbrannte, wer das schönste Selfie mit Lieblingsroman auf Lieblingssessel produzierte.
BookToks Popularität ist kein Zufall
Dass es kein Zufall ist, dass BookTok im ersten Corona-Jahr groß wurde, zeigen Karrieren wie die der BookTokerin Saskia Papen, 23, die unter dem Namen @pastellpages täglich ihre fast 30 000 Follower:innen begeistert. Beliebtes Format: "Ein Abend, ein Buch", bei dem Saskia Papen ein Leseerlebnis ohne Worte, nur mit Mimik wiedergibt. Das dauert schon mal zwei volle Minuten, was für BookTok-Verhältnisse ungefähr so lang ist wie die Kinofassung von "Doktor Schiwago". Angefangen auf dem Kanal hat die gelernte Buchhändlerin, als ihr im Frühjahr 2020 die Decke auf den Kopf fiel: "Die Buchhandlungen waren geschlossen, ich suchte nach Möglichkeiten, mich mit anderen über Bücher auszutauschen!"
Die Langeweile während der Lockdowns, kombiniert mit einem schnellen Medium, das vorher vor allem für Tanzvideos bekannt war, wirkte anscheinend wie ein Weckruf: Während in den letzten zehn Jahren die Anzahl regelmäßiger Lesender unter den Jüngeren eine Wellenbewegung abwärts nahm, wiesen die Verkaufszahlen 2021 erstmals wieder zaghaft aufwärts, so die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Nicht nur aktuelle Titel, auch manch angejahrte Romane bekommen dank Fan-Power ein neues Leben. Die Fans treiben das Aufmerksamkeitskarussell an, aber auch Autor:innen selbst. Colleen Hoover etwa knackt mit selbstironischen Videos die Millionengrenze an Follower:innen. Der Buchhandel zieht mit, nicht nur mit eigenen BookTok-Kanälen, auch mit extra Verkaufstischen mit dem Motto: "BookTok made me buy it", "Das habe ich wegen BookTok gekauft!"
Eine Erfolgsstory – mit ein paar Schönheitsfehlern. Zum einen der chinesische Konzern Bytedance, der hinter der App steht. Der gilt als wenig zimperlich im Umgang mit Datenschutz, dafür umso beflissener, mithilfe seiner Algorithmen unliebsame politische Inhalte zu unterdrücken. Ein Grund, warum manche Verlage zögern – und dann doch merken, dass es ohne den neuen Kanal für Fan-Feedback nicht mehr geht. Manche nutzen die Plattform auch, um neue Autor:innen zu entdecken. So kaufte S. Fischer "The Atlas Six" von Olivie Blake ein, den Auftakt einer Fantasy-Trilogie, nachdem diese zunächst im Selbstverlag erschienen und dann auf BookTok in den USA durch die Decke gegangen war.
Hauptsache "booktokable"?
Zum anderen könnte man die Nase rümpfen über das poppige Umfeld. Zehn Sekunden reichen für einen Begeisterungsausbruch, nicht aber für eine gut begründete Kritik. In manchen Clips wirken die Bücher auch eher wie Deko-Gegenstände, Hauptsache "booktokable", so wie bisher "instagrammable". Ist das nicht ein bisschen platt? Nein, widerspricht Rita Bollig, verantwortlich für Marketing bei dtv, wo auch Colleen Hoovers Romane erscheinen. "Ich habe noch selten so viele herzerwärmende, kreative Dinge rund um Romane gesehen wie in den letzten zwei Jahren auf TikTok. Klar ist Optik wichtig, aber die Leute wollen sich die Bücher ja nicht nur ins Regal stellen. Sondern lesen und sich darüber austauschen."
Die Autorin und Moderatorin Karla Paul, eine der deutschen Digitalpionierinnen im Literaturbetrieb mit eigenem Blog und Podcast seit 2006, sieht die Tipps auf BookTok als Einstiegsdroge. Das meiste sei kein Stoff fürs "Literarische Quartett", aber: "Was haben denn wir mit 16, 17 gelesen? Klar, dass Liebe, Partnerschaft, aber auch fremde Welten bei Teenagern und jungen Erwachsenen beliebte Themen sind." Außerdem ist Anspruchsvolleres oft nur einen Klick entfernt: Die mythologisch-feministischen Romane von Madeline Miller ("Das Lied des Achill") sind ein Beispiel, und auch Fanclubs von Klassikern wie Jane Austen sprießen zahlreich empor.
Möglich, dass der Nachwuchs nicht mehr lang allein auf BookTok ist. "Es ist wie immer auf Social Media", sagt Marketing-Frau Rita Bollig, "die Jüngeren sind als Erstes da, wenn eine Plattform neu ist – und die älteren ziehen nach."