1969
Also, am 20. April werde ich in Köln geboren. Mein Vater ist Lehrer und kommt aus Masuren, meine Mutter kommt aus Köln. Der Nachname Slomka ist polnisch und bedeutet "kleiner Strohhalm".
1974
Meine Mutter liest mir viele Gutenachtgeschichten vor. Mein Lieblingsmärchenbuch heißt "Das alte Haus": eine Geschichte von zwei Kindern, die bei ihrer Großmutter leben. Da gibt’s Tiere, die sprechen können, und einen Wald. Das ist wie Hänsel und Gretel - nur ohne Hexe. Ich finde es blöde, immer darauf warten zu müssen, bis meine Mutter abends Zeit hat. Also bringe ich mir das Lesen selbst bei. Mit der "Sesamstraße". Da halten Ernie, Bert & Co immer Buchstaben hoch. Und so habe ich das mit dem Lesen schon vor der Schule hingekriegt.
1975
Bei meiner Einschulung finden die anderen Kinder uncool, dass ich schon lesen kann. Hat man ja nicht so gern, wenn andere etwas können, was man selbst nicht kann. Dafür bin ich in Mathe und Sport ziemlich schlecht. Eine Entscheidung meiner Eltern löst ein traumatisches Erlebnis bei mir aus: Sie kaufen mir keine Barbie-Puppe, weil sie das nicht mit ihrem Frauenbild vereinbaren können. Dafür bekomme ich "Familie Sonnenschein", eine harmlose Barbie-Variante, komplett mit Vater, Mutter, Kind: Die sind politisch korrekt und haben so Spießerklamotten an. Das geht gar nicht. Meine Eltern machen bei meiner Erziehung sicher viel richtig. Nur die Barbie-Puppe, die hätten sie mir ruhig kaufen können.
1970 bis 1977
Diese in "Generation Golf" so hinreißend beschriebenen Samstagabende mit "Am laufenden Band" und Rudi Carrell gibt’s auch bei uns - wo dann die ganze Familie im Bademantel und mit Schnittchen auf dem Sofa sitzt. Natürlich sehe ich auch andere Sachen. Allerdings setzen meine Eltern mich nicht einfach vor die Glotze, sondern wählen das Programm aus: "Wickie und die starken Männer", "Biene Maja", "Sesamstraße". Was ich zusammen mit meinem Vater gucke, sind "Männer ohne Nerven" und "Dick und Doof". Ich muss dabei immer so lachen, dass ich richtige Hustenanfälle bekomme und mich auf dem Boden kringele. Nur den Frosch Kermit aus der "Sesamstraße", den finde ich sehr, sehr traurig. Wenn er dieses eine Lied singt, muss ich immer anfangen zu weinen. Er sitzt dann in diesem abgedunkelten Raum, ganz allein, und die ganze Welt scheint auf seinen Schultern zu lasten. Das macht mich fix und fertig. Und ich bekomme Panik, wenn die Spinne Thekla bei "Biene Maja" wieder so komische Dinge macht. Bei solchen Sachen bin ich eher ein ängstliches Kind. Bei "Bambi" heule ich so, dass meine Mutter nicht ein zweites Mal mit mir ins Kino gehen will. "Bernhard und Bianca" überstehe ich gerade eben - mit schweißnassen Händen. Eigentlich bin ich heute noch so: Ich kann keine grausamen Filme sehen.
1978
Schon als Kind bin ich ein Nachtmensch. Ich komme abends nicht ins Bett und morgens nicht raus. Ich glaube, das ist angeboren. Also denken sich meine Eltern einen Deal aus, den "Puppentag". Einen Samstag im Monat darf ich so lange aufbleiben, wie ich will - meistens so bis zwölf. Dafür muss ich an allen anderen Tagen spätestens um 21 Uhr im Bett sein. Ich mache den Handel mit: Wenigstens kann ich dann einmal "bis in die Puppen" lesen und brauche das nicht mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke zu tun. Zu meinen Lieblingsbüchern gehören Pferdegeschichten. Ich leihe mir alle Ponybücher, die es auf dieser Welt gibt, aus der Kölner Stadtbücherei. Mein Leben dreht sich um Bille und Zottel.
1979
Kurz vor dem Gymnasium fangen dann diese Fragen an: Was willst du denn mal später werden? Zunächst denke ich: Kinderbuchautorin wär prima. Dann besuchen wir mit der Schulklasse die Redaktion und die Druckerei des "Kölner Stadtanzeiger". Das finde ich toll! Geschichten schreibe ich gern. Und da kann man jeden Tag Geschichten schreiben, die gedruckt werden. Ich beschließe, Journalistin zu werden. Zum Abschiedsfest an der Grundschule schreibe ich ein Theaterstück, führe Regie und studiere es mit meinen Freundinnen ein. Es heißt "Die gestohlene Uhr". Leider geht was schief bei der Aufführung, und die Uhr, die eigentlich weg sein sollte, kommt unter einem Hut zum Vorschein. Der Haupt-Gag geht flöten, und als Regisseurin ergreift mich das nackte Entsetzen.
1981
Ich höre die Stones. Mick Jagger wird nach Captain Kirk die zweite große Liebe meines Lebens. Jagger verdrängt als großes Schwarzweißbild die Pferde- und Ponyposter in meinem Zimmer. Ich fange an, mir dicke Kajalringe unter die Augen zu malen. Trage Jacketts mit Schulterpolstern, Karottenjeans und diese rosa Söckchen. Dann kommt Madonna über uns, und wir tragen alle diesen einen Handschuh, ohne eigentlich zu wissen, warum. Und irgendwelche Netzhemden und den Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Die achtziger Jahre sind im Prinzip ein Albtraum. Alle sind furchtbar cool, das Yuppie-Gehabe geht los, und ich bin in der Pubertät.
1987/88
Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Simone de Beauvoir: Ich tauche völlig in diese Welt ein, beschließe, eine zweite Simone de Beauvoir zu werden und meine Existenz zu hinterfragen. Und ich will unbedingt nach Paris. Egal wie. Nach dem Abi bekomme ich dort einen Job bei einer Pharmafirma. Ich übersetze Beipackzettel. Zum ersten Mal wohne ich in einer eigenen Wohnung. Ich übe, aus der Metro zu springen, solange sie noch fährt, wie das die richtigen Pariser tun. Ich habe das Gefühl, die Welt liegt mir zu Füßen. Mein allergrößter Stolz ist, dass ich mit einer Freundin in eine Disco reinkomme, die gerade furchtbar "in" ist. Und dann stehen wir da zwischen all diesen Models mit unserem Babyspeck, und wir haben Prince verpasst, der hier einen Tag zuvor ein kleines Privatkonzert gegeben hat. Wirklich schade. Den höre ich heute noch gern.
1988/89
Ich fange an, Volkswirtschaft in Köln zu studieren. Meine Esskultur ist während des Studiums nicht sonderlich ausgeprägt: Tiefkühlpizza und Miracoli. Miracoli esse ich heute noch gern. Nur darf man das nicht mehr zugeben. Heute nennt sich das "Pasta pomodori". Als die Mauer fällt, mache ich mein Vordiplom und sitze in den Examensprüfungen. Im Nachhinein denke ich mir: Warum, um Gottes willen, bist du an diesem Tag nicht nach Berlin gefahren? Ich sitze ein-fach nur gebannt vor dem Fernseher und habe dieses Gefühl, das vielleicht typisch für Nordrhein-westfalen ist, weil wir so weit im Westen wohnen: Was sich da abspielt, ist alles ganz weit weg.
1991/92
Ein Jahr lang studiere ich internationale Politik an der University of Kent in Canterbury. In den Seminaren beschäftigen wir uns auch mit Huntingtons Buch "Kampf der Kulturen" und nuklearem Terrorismus. Ich schreibe kluge Aufsätze darüber, wo die Gefahren des neuen Jahrtausends liegen. Aber eigentlich ist das noch alles abstrakt für mich. Die Zeit in England ist mein bestes Studienjahr überhaupt. Ich freunde mich mit Leuten aus Malaysia an, aus Brasilien und Frankreich. Und ich denke: Vielleicht sollte ich Diplomatin werden. Es gibt doch diese Diplomatenschule in Bonn. Meine Eltern finden die Vorstellung sehr komisch, weil ich in der Schule immer eine große Klappe hatte und nie diplomatisch war. Sie lachen bloß und raten mir, meinen Berufswunsch Journalismus weiterzuverfolgen. An England gefällt mir der Humor am besten, dieser trockene Humor, den auch alle unsere Professoren haben. Und die Präzision der Sprache. Die ist nicht verschachtelt, sondern klar und kommt schnell auf den Punkt. Die Glossen in der "Financial Times" sind wirklich toll, und wie die Parlamentsdebatten beschrieben werden, mit solch bösem Humor und dieser Ironie, das ist einfach großartig. Dieses Jahr in England hat mich wirklich geprägt.
1995
Christo packt den Reichstag ein, und das treibt mir die Tränen in die Augen. Ich fahre nach Berlin und denke: Das hat was Weltstädtisches. Und ich bin stolz auf mein Land, dass so etwas möglich ist.
1996 bis 2000
Bei der Deutschen Welle mache ich ein Volontariat, 1997 berichte ich für den Sender aus Brüssel. Ein Jahr später wechsele ich zum ZDF und arbeite als Parlamentskorresponden-tin, zunächst in Bonn, dann in Berlin. Ich höre viel "Element of Crime", das symbolisiert für mich Berlin, dieses gruftige, coole... Kreuzberg.
2001
Im Januar übernehme ich die Hauptmoderation des "heute journal". Ich bitte darum, dass ich wenigstens eine der Karnevalswochen frei habe. Ich kriege die von Weiberfastnacht frei und habe Rosenmontag eine etwas tiefere Stimme als sonst. Aber ich hangele mich trotzdem korrekt durch die Sendung. In Köln wächst man mit dem Karneval einfach auf, lernt die Lieder. Es ist eine Super-Party, man muss ja nicht den offiziellen Karneval machen und in Sitzungen gehen. Aber dieser Kneipenkarneval ist wirklich schön. Es macht Spaß, mit vielen Leuten loszugehen und stundenlang zu tanzen.
2003
Im Sommer sitze ich in Florida mit zwei New Yorker Paaren in einer Bar. Im Fernseher läuft die letzte Staffel von "Sex and the City". Und es gibt extra dafür Manhattan-Cocktails. Das war das Coolste überhaupt. Ich liebe Serien wie "Sex and the City" und "Seinfeld". Warum gibt’s in Deutschland nicht solche Drehbuchautoren? Diese HBO-Serien, auch "Six Feet Under", sind witzig, frech und stylish gemacht, sie sind unterhaltsam, und trotzdem berühren sie mich. Was Carrie und ihre Freundinnen erleben, ist ja nicht nur zum Lachen, die stellen ja auch manchmal gute Fragen, wo man sich selbst wiedererkennen kann. Und wenn man etwas über New York lernen will, muss man "Seinfeld" gucken.
2004
Für die "Stiftung Lesen" gehe ich an meine alte Grundschule in Köln und nehme das Buch "Wenn der wilde Wombat kommt" mit: In einem Zoo wird ein australischer Wombat eingeliefert. Keins von den anderen Tieren hat jemals so einen Wombat gesehen, und nun gehen Gerüchte um. Als er endlich ankommt, entpuppt er sich als ein entzückender kleiner Bär. Das Buch ist eine Parabel auf üble Nachrede, Tratsch und wie man anderen damit schaden kann. Die Kinder gehen richtig mit, gucken, kreischen, schreien. Und die Spannung wird immer größer, und die Kinder freuen sich, wenn ich die Seite umblättere und die nächste Variante des vermeintlich wilden Wombat zeige. Mein persönliches Lieblingsbuch ist das "Klingsor-Paradox" von Jorge Volpi. Das ist eine Geschichte um Freundschaft und Verrat, voll verschlungener Zeitebenen, es geht um Physik, die Relativitätstheorie und die Atombombe. Aber man braucht nicht viel von Wissenschaft zu verstehen, um der Faszination des Buchs zu erliegen.
2037
Als Kind habe ich richtig gut Block- und Altflöte gespielt. Dann habe ich den Zeitpunkt verpasst, auf ein anderes Musikinstrument umzusteigen. Schade, ich würde gern Klavier spielen können. Vielleicht bringe ich mir das irgendwann nach meiner Pensionierung bei. Na ja, so, wie's aussieht, werden wir wohl alle bis in die Puppen arbeiten müssen. Mindestens.
Das ist Marietta Slomka
Marietta Slomka moderiert seit 2001 das "heute journal". Sie schreibt ihre Texte selbst, und die kommen bei den Zuschauern gut an. Denn Slomkas Sprache ist klar, schnörkellos - und manchmal sogar ein wenig flapsig, wenn sie sagt: "Das nervt!" Einen Namen hat sie sich auch mit ihren Interviews gemacht: Bei diesen "Kreuzverhören" ("FAZ") besteht sie hartnäckig auf Antworten und lässt Floskeln nicht gelten.