Anzeige
Anzeige

"Glück" als Schulfach

In einer Schule in Heidelberg lernen Jugendliche, wie sie das schönste Gefühl erreichen können.

image

Christina steht vor der Kletterwand. 20 Meter. Sie denkt: Hoch wie ein Hochhaus! Sie soll da rauf. Ihr Herz klopft bis zum Hals. Sie steigt los. Bis zur Mitte. Dann packt sie die Panik. Da klemmt sie an der Wand, kann nicht weiter. Die 16- jährige Schülerin weiß aus dem Unterricht, welches Programm ihr Gehirn jetzt abspult: "Ich schaff das nicht. Ich habe Angst!" Die Leute unten feuern sie an: "Christina, du kannst das! Glaub an dich! Weiter!" Sie gibt sich einen Ruck. Klettert langsam. Bis ganz nach oben. Und als sie von dort vorsichtig nach unten linst und die anderen applaudieren sieht, fühlt sie sich überrollt von einer wunderbaren, warmen Welle: Glück.

Bestens. Lernziel erreicht. Klettern gehört in der Willy-Hellpach-Schule, Berufsfachschule und Wirtschaftsgymnasium unter einem Dach, zum Fach "Glück", Modul: "Körper in Bewegung". Nur hier, in Heidelberg, lernt man in der Schule Glücklichsein. Solche ungewöhnlichen Themen stehen zum Beispiel im Curriculum: "Abenteuer Alltag", "Freude am Leben", "Freude an der eigenen Leistung". Ernst Fritz-Schubert, der Rektor - ein dynamischer 60-Jähriger, der gern Marathon läuft und über sich selbst sagt: "Ich löse Probleme meist mit heiterer Gelassenheit" -, hat das Fach vor einem Jahr etabliert. Er fand es schockierend, dass seine Schüler und Schülerinnen mit hängenden Schultern durch die Flure stromerten, oft schlecht gelaunt, immer mit der Angst im Genick, zu versagen. Für fast alle Jugendlichen sei Schule ungefähr gleich schlimm wie Zahnarzt, zitiert er gern aus einer österreichischen Studie.

Rektor Fritz-Schubert überlegte: Das ganze Schulsystem ändern? Das würde ihm sowieso nicht gelingen. Was also könnte er tun, damit sich seine Schüler trotz des Leistungsdrucks besser fühlen würden? Sein Ergebnis: Sie müssen raus aus der Opferrolle. Sie brauchen Selbstbewusstsein und Ziele - und vor allem dies: lernen, die Verantwortung für ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Er stellte ein Team zusammen. Zehn Lehrerinnen und Lehrer gehören dazu, außerdem der Motivationstrainer Prof. Wolfgang Knörzer vom Institut für Alltags- und Bewegungskultur an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Bernhard Peters, früher Hockey-Bundestrainer, jetzt Sportdirektor des TSG Hoffenheim, der gerade in die Fußball-Bundesliga aufgestiegen ist. Und eine Gruppe Schauspieler vom Stadttheater in Heidelberg. Gemeinsam dachte man sich einen Lehrplan aus.

Glück als Schulfach? Ausgerechnet im engstirnigen Baden-Württemberg? Das hat doch nichts mit Schule zu tun! Das kriegst du doch nie durch!, hörte Fritz-Schubert von verschiedenen Seiten. Aber Überraschung: Das Kultusministerium akzeptierte "Glück" als Wahlfach. Fritz-Schuberts Argumente hatten gezogen: "Glück" mit all seinen Facetten passe doch genau zu dem speziellen Profil der Hellpach-Schule, das sich die Schule vor drei Jahren im Rahmen einer Bildungsreform zugelegt hat - "Lern- und Lebenskompetenz". Glück habe außerdem viel mit den klassischen Fächern Religion, Biologie, Chemie, Psychologie und sogar mit Wirtschaft zu tun. Zusätzliche Lehrerstunden wurden für die Glückseinheiten zwar nicht genehmigt, doch das war Fritz-Schubert egal. Er jonglierte. Sparte in anderen Wahlfächern Personal ein und fand im Kollegium Lehrerinnen und Lehrer, die einen Teil ihrer Freizeit investierten. Sponsoren halfen, externe Referenten zu finanzieren.

18 Gymnasiasten und 38 Berufsfachschüler haben das erste Schuljahr "Glück" jetzt absolviert - die einen mit drei, die anderen mit vier Wochenstunden. Im Gymnasium musste in einer Orientierungsphase zuerst abstrakter Stoff gepaukt werden: Wie definierte Aristoteles Glück? Was weiß die Hirnforschung über das höchste der Gefühle? Die Schüler konnten sich ein Thema aussuchen und darüber eine Präsentation erarbeiten, die am Schuljahresende benotet wurde und ins Abiturzeugnis als "besondere Lernleistung" eingehen wird. Bei den Berufsfachschülern dagegen überwogen auf dem Stundenplan die Selbst- und Gemeinschaftserfahrung: Klettern, gesunde Ernährung, Theaterspielen, gewaltfreie Kommunikation. Noten gab es für die Dokumentation des Unterrichts. Wunderschöne Hefte seien entstanden, denen man ansehe, wie viel das exotische Fach den Schülern bedeute und wie viel Freude und Kreativität es freisetze, sagt Ernst Fritz-Schubert.

Der Schulrektor kann sich vor Anfragen von Medien und von Kollegen kaum retten, seine Idee hat eine große Diskussion ausgelöst - er ist begeistert davon. Jetzt veröffentlicht er seine Erfahrungen in dem Buch "Wie ein neues Fach die Schule verändert". Er sagt, er merke vielen seiner Glücks-Schüler an, dass sie aufrechter durch die Welt gehen, fröhlicher und selbstbewusster sind.

Christina zum Beispiel, die Kletterin: Früher, erzählt sie, habe sie sich einfach irgendwie treiben lassen. Nach ihrem Hauptschulabschluss wusste sie nur, dass sie keinen Bock auf die Maloche in einer Ausbildung hatte, deshalb meldete sie sich in der Willy-Hellpach-Schule an, um den Realschulabschluss aufzusatteln. Durch die Auseinandersetzung mit sich selbst weiß sie heute, wie wichtig es ist, etwas zu wagen, um den eigenen Horizont zu weiten. Christina will auf dem Wirtschaftsgymnasium das Abitur machen. Und dann Sonderpädagogik studieren. Wer sie früher kannte und das heute hört, staunt.

Ob andere Schulen seine Idee aufgreifen? Ob die Schulpolitiker dahinterständen, dass sich "Glück" im ganzen Land ausbreitet? Darauf habe er keinen Einfluss, sagt Rektor Fritz-Schubert. Immerhin: Ein Privatgymnasium in Weinheim will mit dem Fach im September ab der fünften Klasse starten und es dann bis zum Abitur fortführen.

Buchtipp:

image

Ernst Fritz-Schubert, "Schulfach Glück. Wie ein neues Fach die Schule verändert" (16,95 Euro, Herder)

BRIGITTE 18/08 Text: Nina Poelchau Foto: Anja Jahn

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel