Wir treffen uns zum ersten Mal Anfang des Jahres bei einem Shooting des Fotografen Andreas Mühe. Es geht um Lieblingskleidungsstücke, und Aino Laberenz bringt eine Tasche voller Vintage- und Designerkleider mit. Am Ende fotografieren wir sie in einer ausgeleierten Herrenstrickjacke, weinrot mit schwarzen Streifen. Sie gehörte Christoph Schlingensief, dem umtriebigen Aktionskünstler, Regisseur, Bayreuth-Inszenierer. Ihrem Mann. Aino trägt die Jacke immer, wenn sie eine Extra-Schutzschicht braucht. Und das ist oft. Sie hat die Statur einer Ballerina, schmal und filigran, lange hellbraune Haare, die sie nachlässig zum Mittelscheitel trägt. Sie hat kein Gesicht, sondern ein Gesichtchen: fein geschnitten, mit leicht schräg stehenden graugrünen Augen. Schlingensief starb mit 49 Jahren im August 2010, nachdem er zwei Jahre gegen den Lungenkrebs gekämpft hatte. Es gab Verschnaufpausen, aber die Metastasen kamen immer wieder - Aino pflegte ihn, fuhr ihn tagtäglich zum Arzt und blieb zum Schluss an seiner Seite.
Nach seinem Tod zog ihr jüngerer Bruder vorübergehend bei ihr ein, weil sie nicht allein sein konnte. Oder wollte. "Das war schön. Und doch konnte mich keiner trösten. Denn der, der es könnte, ist tot." Nächtelang hat sie wach gelegen und Krankenhausserien geschaut. Das klingt schrullig, sagt sie, aber es hat sie beruhigt. "Das Umfeld fühlte sich vertraut an, schließlich hatte ich die letzten zwei Jahre unglaublich viel Zeit dort verbracht." Mit ihren 31 Jahren wirkt Aino eigentlich viel zu jung, um als Witwe bezeichnet zu werden. Sie hat beschlossen, das kreative Vermächtnis ihres Mannes weiterzuführen, vielleicht eine Wahnsinnsaufgabe. "Im ersten Jahr nach seinem Tod hatte ich kaum Zeit zum Traurigsein. Ich habe nur funktioniert, weil ich es musste, weil es so viel zu tun gab." Aino gestaltete zusammen mit der Kuratorin Susanne Gaensheimer den Schlingensief-Pavillon auf der Biennale. Es gab Anerkennung, aber auch reichlich Kritik ("Gutgemeintes Pathos" schrieb die Süddeutsche Zeitung). Sie betreute die Aufführung seines letzten Stücks "Via Intolleranza II" beim Theatertreffen.
Und dann gibt es da noch ein anderes Erbstück: Schlingen-siefs großen Traum von einem Operndorf in Afrika. Als er bereits eine Chemotherapie hinter sich hatte, suchte er in Afrika nach einem Ort für seinen Traum und fand den Platz in Burkina Faso, einem der ärmsten Länder der Welt. Die Grundsteinlegung und den Baubeginn erlebte er noch. Was zuerst wie eine wahnwitzige Künstlerfantasie klingt, ist ein ungewöhnliches, aber hoch anständiges Entwicklungs-hilfeprojekt, das kontinuierlich wächst und für das eine Menge Spendengelder organisiert werden müssen. Junge Menschen aus Burkina Faso sollen hier zusammenkommen, um zu leben, zur Schule zu gehen und sich künstlerisch auszuprobieren. Nun ist Aino Laberenz Erbin von Schlingensiefs übergroßem Traum und dafür verantwortlich, dass die von ihm angekündigte Krankenstation und das Festspielhaus tatsächlich realisiert werden.

"Natürlich kann ich Christoph nicht ersetzen, und ich will es auch gar nicht. Er war ein Charismatiker, der die Leute für das Projekt anders begeistern konnte, als ich es kann." Schlingensief, die Ideenmaschine, inszenierte sogar noch vom Krankenbett aus. In den sieben Jahren, die das Paar zusammengelebt und -gearbeitet hat, stand immer er, der charismatische Provokateur, im Mittelpunkt und Laberenz, die zurückhaltende Kostümbildnerin, im Hintergrund. Die Schauspielerin Fritzi Haberlandt, die Aino bei einer Produktion am Maxim-Gorki-Theater kennen gelernt hat, ist eng mit ihr befreundet. Sie beschreibt Aino als kreative Einflüsterin, die sich gern zurücknimmt, damit andere glänzen können. Dennoch sei sie nicht zu unterschätzen: "Aino wirkt zerbrechlich, ist aber eine starke Persönlichkeit. Nicht ein Mal hat sie in der Öffentlichkeit geweint, sie macht den größten Kummer mit sich selbst aus. Sie wird nie eine Rampensau im Stil von Schlingensief werden, das entspricht überhaupt nicht ihrem Naturell. Es geht ihr nur um die Sache, nicht darum, sich zu produzieren."
Aino, die in Turku, Finnland, zur Welt kam, und Schlingensief lernten sich 2004 in Zürich kennen. Sie war damals Assistentin, er hat inszeniert. Es gab einen Blickwechsel auf dem Theaterflur und auf Ainos Seite keine Ahnung, wer der große Mann mit dem wirren Haar und den funkelnden Knopfaugen ist. Es machte damals sofort Klick, man verbrachte ein Wochenende in den Bergen. Aino erinnert sich, dass sie sich sofort alles anvertrauten. Die Anziehungskraft bestand in der Andersartigkeit. "Die Krankheit hat dann noch mal vieles auch auf den Punkt gebracht, war wie ein Katalysator der Gefühle", erzählt Aino. "Er wollte unbedingt heiraten, es ging nicht um das Papier, eher um den Gedanken, zusammen alt zu werden. Trotz der Krankheit."
Geheiratet haben sie im August 2009 auf Schloss Hoppenrade in Brandenburg. Seinen breiten, goldenen Ehering hat Schlingensief gerade mal ein Jahr getragen, er hängt jetzt an einer Kette um Ainos Hals. An einem grauen Berliner Märztag treffen wir uns ein weiteres Mal. Aino Laberenz wartet vor dem "Hamburger Bahnhof". Sie trägt einen langen, dunklen Mantel, eine große, schwarze Sonnenbrille und hohe Stiefel. Die Mütze hat sie sich tief ins Gesicht gezogen. "Manchmal empfinde ich es als Unverschämtheit, dass alles ohne ihn weitergeht", sagt Aino und zieht die Schultern hoch. "Der Frühling ist immer wieder aufs Neue hart, alles wird wieder grün, die Vögel fangen an zu singen, und Christoph ist immer noch tot. Besonders schlimm ist auch der August, der Monat, in dem er gestorben ist und in dem wir auch geheiratet haben." Wird der Schmerz denn gar nicht weniger? "Nein, wird er nicht, nur anders. Ich lerne damit umzugehen."
Wir laufen durch die Ausstellungsräume, in denen die 70 Bilder hängen, die am nächsten Abend zugunsten des Operndorfs in Burkina Faso versteigert werden sollen. Aino erzählt, wie sie in einer schlaflosen Nacht im Handy von Christoph die Mail-Adresse des bekannten amerikanischen Künstlers Matthew Barney gesucht und ihm spontan geschrieben hat. Matthew Barney antwortete ein paar Minuten später und schickte ein Bild mit Tigerkatze, ein Sammler wird es für 22 000 Euro ersteigern. "Seine Mail war mein Startschuss. Mir war plötzlich klar, dass Christoph für viele noch sehr lebendig ist und sie seine Vision bis über seinen Tod hinaus unterstützen werden". Sie lächelt und sagt: "Die neue Verantwortung setzt ungeahnte Qualitäten frei. Seit Christophs Tod tue ich Dinge, die ich mir niemals zugetraut habe: allein nach Afrika reisen, mit Politikern verhandeln, Finanzpläne überwachen oder vor mehr als zwei Leuten sprechen." Am Abend tritt sie in einem schicken Minikleid mit Blumenprints auf die große Bühne. Sie verschwindet fast hinter dem Rednerpult, erzählt aber mit klarer, fester Stimme, wie sehr sie dafür kämpfen wird, dass die Menschen in Burkina Faso nicht hängen gelassen werden. Der bekannte Mäzen und Anwalt Peter Raue schwingt den Hammer, Patti Smith singt einen A-capella-Song, eine Gouache von Sigmar Polke wechselt für 66 000 Euro den Besitzer.

Am Ende kommen bei der Benefiz Versteigerung mehr als eine Million Euro zusammen. Die Leute haben an diesem Abend für Christoph Schlingensief gespendet, organisiert hat die Veranstaltung seine Witwe. Genauso wie die Fertigstellung von 16 Häusern, einer Kantine und der Schule. Schlingensief hat immer mit Panik im Nacken und großem "Kawumms" inszeniert, Aino zieht die Strippen leiser und effektiver. Ein paar Monate später ist endlich Sommer in Berlin. Ein sehr heißer Sommer. Aino ist inzwischen umgezogen. Es fiel ihr schwer, die gemeinsame Wohnung aufzulösen, aber es musste sein. Wer will schon in einem Mausoleum leben? Im Durchgangszimmer lehnt ein Bühnenteil aus Schlingensiefs Inszenierung "Kaprow City", im Badezimmer stehen ein kleines und ein großes Paar Pantoffeln, auf dem Klavier stehen nicht nur Ainos, sondern Schlingensiefs gesammelte Fundstücke. Über dem Bett hängt ein Zettel, auf dem in schwarzer Tinte steht: "Immer auf das Herz, gerade wenn es schwierig wird!" Zum Glück ist Ainos Welt auch unverkennbar vorhanden, sonst wäre die neue Wohnung ein Christoph Schlingensief-Schrein voller Erinnerungen.
Aber da sind: die Nähmaschine, die Dosen voller Pinsel und Farben, Ainos Sammlung hübscher Kleider, die dekorativ vor dem Schrank hängen, und die vielen Modebücher. Kann sie sich eigentlich vorstellen, sich irgendwann mal neu zu verlieben? "Vielleicht, ich bin ja noch jung", antwortet Aino Laberenz zögernd. "Obwohl es schwer werden wird. Ich weiß einfach: Wir waren's." Sie war gerade in Afrika, um den Bau der Krankenstation anzuschieben, im Herbst wird die zweite Grundschulklasse eingeschult. Diesmal hat sie Christophs Strickjacke in Berlin gelassen. "Er ist sowieso immer bei mir und schwebt wie ein guter Geist über dem Dorf." Sie weiß aber auch: Je länger Christoph tot ist, desto schwieriger wird es werden, Spenden aufzutreiben. Aino arbeitet wieder als Kostümbildnerin, zurzeit am Düsseldorfer Schauspielhaus, im Oktober feiert dort das neue Stück von Schorsch Kamerun Premiere. Es geht also voran - und dann wieder doch nicht. "Die Zeit heilt die Wunde nicht. Neue Menschen kommen in mein Leben, schöne Dinge passieren, es geht vorwärts, nur fühle ich mich dabei immer halb, nicht komplett."