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Ein Konzertsaal in Potsdam, eine schiefergraue Bühne, ein Flügel, weißes Licht auf den Tasten - nichts deutet darauf hin, dass hier eine Frau gleich alle Regeln brechen wird.
Was anders ist, zeigt sich erst, als alle auf ihren Plätzen sitzen. Plötzlich steht neben dem Klavier ein Tisch mit einem Glas Wein und einem Mikrofon. Gabriela Montero, die Pianistin, 38, blonde lange Haare, große braune Augen, ein warmes Lächeln auf dem Gesicht, greift zum Mikro und sagt: "I will now improvise for you. Give me a theme!"
Stille. Alle ducken sich weg. Man denkt: Soll doch ein anderer den Anfang machen. "Geben Sie mir eine Melodie. Es kann selbst der Klingelton Ihres Handys sein", ruft sie noch mal und schaut so lange über die Stuhlreihen, bis ein Herr in Reihe fünf sich traut und sagt: "Mondscheinsonate." Gabriela Montero nickt, sie habe, sagt sie später, ein klassisches Motiv erwartet, doch dass er nur aufsagt, reicht nicht, er soll singen. Der Herr im Anzug verschränkt die Arme. Nein, er wolle nicht. Und nun? Gabriela Montero wartet, auch das kennt sie von früheren Konzerten. Sie weiß, dass es weitergeht. Und plötzlich ertönen von ganz hinten drei, vier helle Frauenstimmen. Gar nicht zaghaft, immer lauter, wie ein Chor.
Gabriela Montero wiederholt am Flügel die Melodie, zwei, drei Mal, sie schaut nach oben, als blicke sie im Inneren den Tönen nach, die Schultern fallen, alles sinkt, ihr Gesicht, ihr Haar. Sie legt die rechte Hand auf die Tasten. Später wird sie sagen, dieser Moment sei wie ein Sprung von einer Klippe. Dieser Moment, wo sie selbst nicht weiß, wie es weitergeht.
Man meint Mozart wiederzuerkennen, vielleicht auch Debussy. Man entdeckt die Mondscheinsonate wieder und . . . war das nicht ein Ragtime? Die kann es wirklich, denkt man, die spielt einfach drauflos und erfindet Musik. Musik, die wunderschön ist, die vertraut klingt, als hätte man ein Déjà-vu. Gabriela Montero benutzt das harmonische Gerüst, die Sprache der Klassik, aber das Stück ist neu. Es wurde nicht vor Jahrhunderten geschrieben, es entsteht in diesem Moment. Auf einmal wollen sie alle im Saal singen. Auf "Summertime" folgt "Jesus Christ Superstar" und "Ich war noch niemals in New York". Gabriela Montero, das Gesicht erhitzt, hört sich geduldig durch die deutsche Schlagerparade, versteht Reinhard Meys "Über den Wolken" nicht und lässt es den ganzen Saal noch mal singen. Dann zeigt sie, dass nicht nur im Himmel, sondern auch in der Musik die Möglichkeiten unendlich sind: Als sie Beethovens Fünfte nach Argentinien entführt und ihr ein Tango über den Weg läuft, juchzt die Menge auf.
"Es steckt so viel Humor in Beethovens Werk", sagt Gabriela Montero am nächsten Morgen beim Frühstück in einem Potsdamer Hotel. "Wenn man sich trauen würde, mitten im Konzert zu lachen, wäre das nur richtig. Es würde bedeuten, dass man den musikalischen Witz verstanden hat."
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Die Pianistin aus Venezuela wird als Improvisationsgenie gefeiert. Ihre Konzerte sind ausverkauft, und ihre CDs sind Bestseller. Es scheint, als hätte sie mit ihrem Spiel einen Damm gebrochen: Bach, Beethoven, Mozart - für die großen Komponisten gehörte Improvisation einst ganz selbstverständlich zum Programm. Bach soll regelmäßig die Kirchenchöre verwirrt haben, weil er Fugen und Choräle spontan veränderte. Heute sind die Komponisten Göttern gleich und ihre Musik unantastbar. Sie wird von erstklassigen Pianisten erstklassig gespielt. Perfekt. Note für Note. Abweichen, ausprobieren, herumspielen - das ist Jazzern wie Keith Jarrett vorbehalten. Die klassischen Musiker von heute spielen selbst jene Stellen in den Klavierkonzerten vom Blatt, die die Komponisten den Solisten offengelassen hatten. Offen für eine Reise ins Ungewisse, offen für die eigene innere Stimme, offen dafür, man selbst zu sein. Niemand geht das Risiko mehr ein. Niemand traut sich zu fliegen. Und dann kommt eine junge Frau aus Venezuela und stellt sich Abend für Abend auf eine Klippe.
Was macht sie mit der Melodie? Sie ist das Einzige, woran sie dann denkt, sie versucht, sie zu behalten, sagt sie. Der Rest passiert von selbst. Wenn eine Frau so spielt - so frei, ohne Netz und Boden, wie lebt sie dann? Auf den ersten Blick: Gabriela Montero nimmt sich ihre Freiheit auch sonst. Sie trägt Stiefel mit unglaublichen Absätzen, auch im Konzert, ihre Hosen haben manchmal offene Säume, die Fingernägel sind kurz, sehen abgeknabbert aus. Sie lacht viel und gern über sich selbst.
Eine Frau die zwei Töchter von zwei verschiedenen Männern hat, die jetzt allein lebt, die mit ihrer Mutter von Venezuela nach Boston gezogen ist, alle zwei Wochen auf Tournee geht und ihren Kindern dann erklären muss, warum sie sie wieder verlässt. Sie ist eine Frau, die ständig die Balance sucht. Und die noch immer dabei ist, sich zu befreien. Weil es in ihrer Kindheit jemanden gab, der sie einsperrte. Eine Lehrerin, die es nicht ertragen konnte, dass das Mädchen alle Regeln brach. "Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch Klavier spiele", sagt sie. "Zehn Jahre lang habe ich unter dieser Frau gelitten. Sie hat mir das Improvisieren verboten, sie hat gesagt, dass es lächerlich ist, dass es nichts wert ist."
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Erst 2001 veränderte eine Begegnung alles. Sie traf auf die beste Konzertpianistin unserer Zeit: Martha Argerich, heute 66 Jahre alt, eine außergewöhnliche Frau, die, so sagen manche, beim Spiel ein ähnliches Temperament hat. Martha Argerich wusste um die Gabe der Jüngeren, bat sie um eine Improvisation und sagte später, sie sei selten so einem Talent begegnet: "Gabriela ist eine einzigartige Künstlerin." Sie unterstützte sie und führte sie zurück an jenen Punkt, den Gabriela Montero als Kind verlassen hatte. "Als ich mir selbst die Erlaubnis gab, wieder zu improvisieren, konnte ich wieder Kind sein. Ich war zurück auf dem Spielplatz", sagt sie.
Sie sitzt noch immer im Frühstücksraum des Hotels, sie hat heute kein Konzert, nur Interviews. Morgen wird sie in England in einer TV-Show auftreten und übermorgen zurück sein in ihrem Haus in Boston. Dort steht in einem Zimmer zum Garten ihr Klavier. Man kann ihr dabei zuschauen, wenn sie spielt.
Gabriela Montero improvisiert im Internet zu Themen, die man ihr per E-Mail schicken kann. Geschichten, Gedanken, Melodien. Was sie dazu spielt, verschenkt sie. Man kann das Stück herunterladen. Die Musik von ihren Konzerten kann man nicht noch einmal hören. Gabriela Montero spielt ihre Stücke kein zweites Mal. Das könnte sie auch nicht. Sie müsste jemanden bezahlen, der sie aufschreibt. Manchmal nimmt sie ein Konzert auf, manchmal hört sie es sich später an. "Dann bin ich oft selbst überrascht. Ich habe mich auch mal in ein Stück verliebt. Ich höre es mir ein paar Mal an, aber dann tue ich es weg." Kein Bedauern? Darum geht es ja gerade, sagt sie. Nichts bleibt. Es geht um den Moment.
Gabriela Montero im Internet hören
In ihrem Haus in Boston kann jeder Gabriela Montero besuchen - via Internet
Unter dem Motto "Live in My Living Room" improvisiert sie zu Themen, Melodien oder Noten, die man ihr per E-Mail zusenden kann. Die Aufnahmen stehen jeweils drei Tage kostenlos als Download zur Verfügung. Die nächsten Konzerte von Gabriela Montero in Deutschland: 17.6. in Essen, 11.11. in Hamburg, 12. 11. in Berlin, 13. 11. in Frankfurt.