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Bjarne Mädel: Die männliche Mauerblume

Bjarne Mädel ist der lustigste Schauspieler Deutschlands und wird mit Auszeichnungen überhäuft. Für seinen "Tatortreiniger" bekommt er nun schon zum zweiten Mal den Grimme-Preis. BRIGITTE-Redakteurin Beatrix Gerstberger traf den Mann, der von sich selbst sagt: "Meine Arbeit fängt da an, wo andere sich vor Entsetzen übergeben."

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Bjarne Mädel, der einmal einen Gedichtband mit dem Titel "Glück reimt sich nicht auf Leben. Na ja, so ist das eben" geschrieben hat, verlor im Dezember seines erfolgreichsten Jahres als Schauspieler seine Stimme. Und befürchtete schon, das sei am Ende seine Geschichte: Wie einer jahrelang unterschätzt wird, endlich doch Anerkennung und Preise erntet, um dann schließlich an einer Pizza mit einem Splitter zu scheitern. Titel: Im besten Jahr seines Schauspielerlebens fiel Bjarne Mädel preisüberhäuft direkt vom roten Teppich in tiefes Schweigen und Schwermut. "Glücksbegabt geht anders", sagt er.

Mit einer Kehlkopfentzündung fing es an. Er sollte die neuen Folgen der NDR-Serie "Der Tatortreiniger" in Hamburg drehen. Und dann saß er stattdessen in seinem Hotelzimmer mit dem Blick auf den Hamburger Michel und wartete auf seine Stimme. Er nahm Antibiotika. Er wartete. Nach fünf Tagen wagte er es, wieder zu drehen. In der Mittagspause aßen sie Pizza. Es kratzte im Hals, es hörte nicht auf zu kratzen, es wurde schlimmer. Er ging zum Arzt, der schob ihm ein Endoskop in den Hals und sah einen Splitter. Der muss raus, sagte er. Geht schnell, kleine Vollnarkose nur. Klappt den Kiefer auf, schneidet das Zungenbändchen durch, findet nichts. Wieder Antibiotika. Wieder Drehstopp. Die Kollegen, das Team, alle mussten auf ihn warten. Es machte ihn doppelt krank, daran zu denken. Sein Körper reagierte mit einem Pilz auf die Antibiotika, er schluckte ein Mittel gegen den Pilz, er merkte, wie sein Kopf anschwoll, er fuhr ins Krankenhaus, bekam etwas gegen die Allergie. Und hatte Angst, dass sein Körper endgültig sagt: Aus, vorbei, vergiss das Ding mit dem Schauspieler-Sein.

, 45, ist der witzigste Schauspieler Deutschlands. Er hat im letzten Jahr den Grimme-Preis bekommen und den Preis als bester Comedydarsteller. Er hat all diese Preise schon längst verdient. Als Ernie in "Stromberg", von Kollegen gemobbt, vom Chef gedemütigt, mit grausamen Krawatten und Schweißflecken unter den Armen, als "Der kleine Mann" in der eigens für ihn geschriebenen Pro7-Serie über einen Elektro-Fachverkäufer und vor allem als "Der Tatortreiniger" Schotty mit Schnauzer und Zöpfchen, pragmatischer Seele und der Berufsbeschreibung: "Meine Arbeit fängt da an, wo andere sich vor Entsetzen übergeben."

Ich versuche einfach, authentisch scheiße auszusehen.

Diese Miniserie über den Mann mit Schrubber, Lappen und Desinfektionsmittel, der kommt, wenn die Spurensicherung geht, und der die blutigen Reste wegwischt, versteckte der NDR Weihnachten 2011 im Nachtprogramm. Und dann geschah eine Art Weihnachtswunder. Fernsehkritiker schrieben, dass da etwas Absurd-Witziges und in Deutschland völlig Einzigartiges liefe. Ein tiefsinnig-komisches Meisterwerk mit grandiosen intelligenten Texten und einem Bjarne Mädel, der wahnsinnig uneitel beim Spielen sei. Was heißen soll, dass er meistens nicht besonders vorteilhaft aussieht, wie schon zuvor als treu-trotteliger Dorfpolizist in "Mord mit Aussicht" - mit seinem Bäuchlein über dem Hosenbund und dem Pisspottschnitt. Niemand spielt eine männliche Mauerblume so gut wie Bjarne Mädel. "Ich versuche einfach, authentisch scheiße auszusehen", sagt er.

In Deutschland reicht das meistens, um als Comedian Erfolg zu haben. Aber tiefsinnig-komisch, das können nur wenige. Und unter denen ist Bjarne Mädel noch einmal eine Klasse für sich. Weil das Lachen über ihn immer auch etwas Zerbrechliches hat. Wie auch beim Lesen seines biografischen Gedichtbands, der mit der beiläufigen Leichtfüßigkeit eines Heinz-Erhardt-Witzes daherkommt und dann Dünnhäutigkeit und Depressionen beschreibt, das Gefühl, manchmal im Leben den richtigen Bus verpasst zu haben, und diese Tage, an denen er nicht so gern unter Leute geht, weil er befürchtet, dass dann jeder sehen kann, was gerade in seinem Herzen geschieht.

An anscheinend genau so einem Tag stehen wir vor einem Restaurant im Hamburger Portugiesenviertel, in dem das Interview stattfinden soll. "Ziemlich leer", sagt er, "da kann man ja alles mithören." - "Und das gegenüber?" - "Ziemlich voll. Zu viele Menschen. Könnten wir auch auf meinem Hotelzimmer nebenan reden und uns was aus dem Supermarkt zu essen mitnehmen?" Im Supermarkt zieht er die Mütze tief über die Augen. "Das nehmen wir, oder?" Zwei Hähnchen aus dem Backofengrill, eine Tüte Chips. "Oh Gott, hoffentlich sieht uns keiner. Da habe ich acht Wochen trainiert, um meinen Bauch wegzubekommen für den Schotty, und jetzt essen wir beide so etwas.",

Lieblingsfigur: Bjarne Mädel als "Tatortreiniger" Schotty.
Lieblingsfigur: Bjarne Mädel als "Tatortreiniger" Schotty.
© NDR/Thorsten Jander

Den "Tatortreiniger" Schotty, den liebt er, weil so viel von seinem Humor drinsteckt, sagt er. Die Figur ist so, wie er sie wollte, sehr Macho, sehr bodenständig, normal und doch besonders, norddeutsch halt. Der NDR hatte 2011 eine Serie bei ihm und seinem Lieblingsregisseur Arne Feldhusen bestellt, die Kult werden kann, aber es sollte billig zu produzieren sein. Der Sender hatte gedacht, er bekommt etwas für die ganze Familie, und dann gab es die erste Folge mit einer Nutte, Bjarne steht in Unterhose vor ihr, und es geht darum, ob sie ihm einen bläst oder nicht, und im Hintergrund sieht man die Spuren eines Mordes, die Reste eines Menschen, der gerade abgeschlachtet wurde. Auf gar keinen Fall, sagte der Unterhaltungschef. Sie drehten eine weitere Folge über einen Schriftsteller. Und plötzlich sahen alle: Das ist Qualität. Macht mal.

Und jetzt kann er endlich die großen Namen anrufen, sagt Bjarne Mädel. Fritzi Haberlandt, Florian Lukas oder Milan Peschel. Hast du Lust?, fragt er sie, und wenn dann einer sagt, nee, schaffe ich nicht, keine Zeit, dann schickt er auch mal eine SMS, in der steht: "Ach, komm, ich back dir auch 'nen Kuchen."

Denn darauf hat er immer gewartet, sagt Bjarne Mädel, dass er mit tollen Kollegen etwas machen darf, hinter dem er hundertprozentig steht. Nicht so wie damals, 1995 bei seinem ersten Fernsehauftritt als 27-Jähriger. "Mama, ich komm im Fernsehen", hatte er gesagt, und Mama informierte alle Nachbarn in ihrer Straße: "Unser Junge ist im Fernsehen." Und dann meldete sie sich zwei Tage lang nicht, nachdem sie ihn als betrunkenen Ballermann-Touristen mit dem einen Satz "EylassmajetzdasMädchendalos" in der RTL-Serie "Und tschüss! Auf Mallorca" gesehen hatte. Er rief an. Was ist los, Mama? "Ich habe zwei Nächte lang nicht geschlafen", sagte seine Mutter. "Wir haben überlegt, wo wir Geld für dich auftreiben können, damit du so etwas nicht mehr machen musst."

Kultserie: Bjarne Mädel als Ernie in der Büro-Serie "Stromberg". Die Rolle machte ihn bekannt.
Kultserie: Bjarne Mädel als Ernie in der Büro-Serie "Stromberg". Die Rolle machte ihn bekannt.
© Stromberg ? Sony

Seine Mutter hatte ihn immer lieber am Theater gesehen, am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, wohin ihn Intendant Tom Stromberg 1999 nach seinen Stationen am Rostocker Theater und den Wiener Festwochen geholt hatte. "Meine Mama, die ist die Feingeistige bei uns", sagt er. "Mein Vater war in seinem Leben vielleicht viermal im Theater, und meistens war ich dann auf der Bühne. Das ist nicht so seine Welt." Bjarne Mädel wurde in Reinbek bei Hamburg geboren. Bjarne, kleiner Bär, nannten ihn seine Eltern, der Vater Bauingenieur, die Mutter Hausfrau. Das Haus, in dem er mit seiner Schwester aufwuchs, liegt in einer kleinen grünen Seitenstraße. Er war im Fußballverein, er hatte Freunde, mit denen er sich heute noch manchmal trifft. Zum Grillen, zu einem Fußballspiel. Als seine Eltern sich trennten, war er 14 und zog mit seinem Vater für ein Jahr nach Nigeria. Nach dem Abitur ließ er sich bei der Bundeswehr ausmustern ("Hab es mit Migräne probiert, die haben dann meine Gehirnströme gemessen, dabei habe ich mir schlimme Sachen vorgestellt - Mord, Totschlag, nackte Frauen. Hat super funktioniert, die haben mir geglaubt"), ging anschließend zwei Jahre in die USA, belegte Kurse in Creative Writing, verkaufte in einer Art Drückerkolonne Putzmittel an Haustüren, kehrte zurück nach Deutschland, studierte Theaterwissenschaft und Literatur an der Uni Erlangen und bewarb sich bei fünf Schauspielschulen. Im Grunde sei er ein Mensch, sagt er, wie er ihn dann häufig während seiner Ausbildung an der Schauspielschule in Potsdam getroffen habe: ein sorgloses Bürgerkind, das sich erst einmal ausprobieren darf, keiner von diesen dreckigen Schauspielern, die er so bewundert.

"Ich hatte immer das Gefühl, ich wäre gern einer aus der Arbeiterklasse, wäre gern ein Mensch von der Straße, aber wenn ich ehrlich bin, auch wenn es bei uns kein Geld im Überfluss gab, ich wusste immer, wenn nichts mehr geht, dann sind da Leute, die mir helfen." Trotzdem weiß er, was körperliche Arbeit ist, sagt er. Mit 17 hat er im Hamburger Hafen gearbeitet. Die schlimmste Arbeit seines Lebens. Er musste Kupferschlacke schaufeln, abends ist er nach Hause gewankt, die Haut dunkel gefärbt, nachts hatte er Nasenbluten von den Dämpfen der Farben, mit denen die Schiffe lackiert wurden. "Ich war so platt, aber dann auch so wahnsinnig stolz, dass ich das durchgehalten habe. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die diese Arbeit machen."

Als er mit seinem Vater in Afrika war, sagt er, hat er auch das erste Mal darüber nachgedacht, welches Privileg es ist, als Weißer in Europa geboren zu sein. Sie lebten in einem Camp mit rund 100 Familien neben einer Großbaustelle. Er ging mit 60 anderen Kindern auf eine deutsche Schule. Und dann begann das, was er eine seltsame Zeit nennt: Es gab Unfälle im Camp, versuchte Morde, ausgebüxte Wildkatzen, ein Lkw mit 100 afrikanischen Arbeitern kippte um, ein Polier wurde erschossen. Der Tod schien im Camp zu wohnen. Kurz nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war, erfuhr er, dass zwei Mädchen beim Rauchen in einer Überseekiste verbrannt waren. Die eine war in ihn verliebt gewesen. Überall in ihrem Zimmer stand das Wort "Bjarne" an der Wand. Er hatte es nicht gewusst.

"Kommt zu mir der Tod, mal ich mir die Nase rot"

Und weil er auch nicht weiß, warum diese Geschichte jetzt plötzlich durch seinen Kopf weht, fährt er mit der Hand über seinen fernfahrermäßig buschigen Schnäuzer, er richtet sich auf im Sessel, schüttelt sich kurz. "Oh Mann, jetzt rede ich schon vom Tod", sagt er, "wieso eigentlich?" - "Weil du den vielleicht brauchst für deinen Humor und deine Art zu spielen?" - "Sieht man das schon auf den ersten Blick?" - "Man muss doch nur deine Gedichte lesen." - "Welches meinst du?" - "Kasperle schlägt den Tod: Kommt zu mir einmal der Tod, male ich mir die Nase rot. Denn muss er erst mal lachen, kann er ja nix mehr machen." - "Okay, dann noch eins. Friedhöfe: kann ich nicht mit umgehn, muss ich meist drum rumgehn."

Angefangen zu dichten hat er, als er vor ein paar Jahren allein in Thailand im Urlaub war. Er saß in einem indischem Restaurant und dachte: "Ist ja kindisch, ich ess indisch." Am nächsten Tag am Meer: "Sitzt man so allein am Meer, wird das Herz schon ganz schön schwer." Als ihn ein Verlag wenig später zufällig fragte, ob er einen Roman schreiben könnte, sagte er: Nee, aber ich hab Gedichte. "Da haben die geschaut, als hätte ich ihnen einen Haufen Hundescheiße angeboten." Ein Gedicht beschreibt seine Cluster-Kopfschmerzen. Das erste Mal riss dieser unglaubliche Schmerz Bjarne Mädels Kopf entzwei, als er nach seinem Engagement in Rostock, das bis 1999 ging, keinen Job fand. Die Ärzte fragten ihn, auf welcher Skala von eins bis zehn er den Schmerz empfinde, er sagte fünfzehn. Seitdem kommen die Schmerzen immer wieder. Immer im Herbst, immer mit zehn Minuten Anlauf, dreißig Minuten Hölle, zehn Minuten Abgang. Drei Monate lang, jeden Tag. Dann wandert er durch seine Wohnung in Kreuzberg, schaut auf die Uhr und wartet darauf, dass es vorbei ist. Es ist ein Schmerz, den er im Stillstand nicht ertragen kann, der zu groß ist für sein Gehirn.

Bjarne Mädel: Die männliche Mauerblume
© Thomas Rabsch

Sicher ist es auch etwas Psychologisches, sagt er, der Druck, den er sich nach innen macht, die ständige Frage, wie werde ich wahrgenommen. Er ahnt, dass sein Körper ihm zeigt, was er nicht nach außen lässt. Schon als Kind hatte er immer diesen Traum von zwei großen Kugeln gehabt, die mit schrillem Ton auf ihn zukommen. "Ein unfassbar großer Lärm in meinem Kopf", sagt er. Dem er nicht entfliehen kann. Wie seinem Ehrgeiz. Er wirkt nach außen lässiger, als er innen ist, das weiß er; alle denken beim Vorsprechen, Mann, ist der cool, dabei ist er vorher 17-mal auf Toilette gerannt. In der Schauspielschule war er so verbissen, wenn er etwas nicht geschafft hat, dann hat er mit dem Schuh gegen die Wand getreten, und einmal, in einem Heiner-Müller-Stück, hat er in dem Bemühen, makellos gut zu sein, so laut gebrüllt, da ist ihm dann die Lunge gerissen. Bjarne, mach mal halblang, hat er sich gesagt, und nun findet er ihn manchmal auf der Bühne, diesen Moment des Glücks, wenn er alles von sich abgeben kann und sich nur noch auflöst in diesem Jetzt und er sich trotzdem spürt. Schauspiel. Glücksspiel.

Da gibt es eine Melancholie, eine Traurigkeit in mir, und ich weiß nicht, warum.

"Depressionen sind, wohin es führt, wenn man sich nicht spürt." - "Steht in meinem Buch, nicht wahr?" Gefragt hat ihn nie jemand danach, sagt er. "In keiner Talkshow, in keinem Interview. Ich denke, es will ja keiner wirklich wissen vom anderen, ob es in ihm dunkel ist. Jeder will nur glücklich sein auf seine Weise." Er findet es schwer zu merken: Bin ich jetzt gerade glücklich? "Wenn ja", sagt er, "bekomme ich nicht so viel mit davon." Der Kopf tönt: Mann, geht es mir gut, tolle Freunde, tolle Freundin, toller Job, und trotzdem sitzt er da und ist komplett leer und traurig und weiß nicht, wieso. "Da gibt es eine Melancholie, eine Traurigkeit in mir, und ich weiß nicht, warum."

Er hat ja versucht, glücklich zu sein. Er hatte so ein Bild von einem ehemaligen Mitbewohner im Kopf, auf ihrem Balkon mit einem Glas Rotwein in der Hand, einem dicken Buch und einem gemütlichen Kissen. "Der saß da so in der Sonne, das sah wahnsinnig nach friedlichem glücklichem Moment aus." Am nächsten Tag hat Bjarne Mädel sich dort ein Kissen hingestellt, eine eiskalte Cola. Eine Wespe kam, ging nicht, nervte ihn. Dann war ihm zu warm, er schwitzte, konnte nicht lesen, die Cola hatte schnell Badewassertemperatur. Nach einer halben Stunde brach er das Experiment ab. "Es war ein Scheißnachmittag, und ich war null glücklich."

Vielleicht kann er all diese armen Würstchen genau deshalb mit großer Würde spielen. Und auch, weil ihn das Schicksal anderer so berührt. Es gibt keine Haut zwischen ihm und der Welt. Einmal brachte er seine alten Wanderstiefel zum Schuhcontainer, doch den gab es nicht mehr, und deshalb schenkte er die Schuhe einer Obdachlosen. Als er wegging, dachte er an den Dreck, der an den Schuhen klebte, er drehte um und entschuldigte sich dafür. Die Frau weinte. Er ging wieder. Drehte wieder um. Wollte ihr einen Kaffee ausgeben. Sie war verschwunden. Und klebte noch tagelang in seinen Gedanken.

Text: Beatrix Gerstberger Fotos: Thomas Rabsch BRIGITTE Heft 7/2013

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