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Keine Angst vor der Angst Warum wir diese wichtige Emotion völlig falsch behandeln

Angst vor der Angst: Kind im Wald steht vor Monster
"Das Gefühl der Angst ist nicht kaputt, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen."
© Digitale Wanderlust / Adobe Stock
Einmal umdenken, bitte! Angst ist für viele von uns ein Ärgernis. Dabei ist eher unser Umgang damit ein Problem als das Gefühl selbst, beklagt eine Psychologin.

Ich stehe unter der Dusche, es ist früher Morgen, ein neuer Tag nimmt seinen Anfang, da denke ich auf einmal an das Ende aller Enden: Ich werde irgendwann sterben. Die Erkenntnis bahnt sich ihren Weg durch meinen Körper, beginnt im Herzen, lähmt die Brust, lässt eine kalte, paralysierende Welle durch meine Glieder fahren. Der plötzliche, meine Psyche vollends einnehmende Gedanke überfordert mich, ich nehme alle Kraft auf, ihn zu verdrängen, konzentriere mich auf die Musik aus dem Bad-Radio, auf das fließende Wasser, auf das Hier und Jetzt.

An einem anderen Tag soll ich ein Interview führen und erfahre kurz vorher, dass es sich im sechsten Stock abspielen wird. Ich merke, dass mir beim Gedanken, so weit oben zu sein, mulmig wird. Als ich nach Betreten des Fahrstuhls in einer Art Skylounge lande, zu der es zu allen Seiten Fenster gibt, überkommt mich wieder die Angst. Die Weite der Welt, die ich am Horizont erahnen kann, setzt mir zu. Die Ungewissheit, das Unbekannte, das Unkontrollierbare nimmt gewichtig Platz auf meiner Brust und schnürt mir den Atem ab.

Ich versuche, mich auf das Gespräch mit meinem Gegenüber zu konzentrieren, merke, wie ich nervös auf dem Stuhl hin und her rutschte. Ich will weglaufen, raus aus der Situation, raus aus meinem Kopf, aus meinem Körper. Aber es gibt kein Entkommen, denn wohin sollte ich fliehen?

Angst wird nicht als Schutzmechanismus betrachtet – sondern als ein Problem und eine Krankheit

Die beschriebenen Situationen mögen viele nicht kennen – das Gefühl kennen wir jedoch alle: Angst begleitet uns im Leben, seit Anbeginn der Zeit. Menschen und Tiere empfinden sie in Momenten der direkten (oder vorgestellten) Bedrohung. "Niemand mag Angst, sie fühlt sich schlecht an. Und aus vielen Gründen könnten wir annehmen, dass alles, was sich so schlecht anfühlt, wahrscheinlich nicht gut für uns ist", erklärt Professorin und Autorin Tracy Dennis-Tiwary im Interview mit dem "Greater Good Magazine". 

Psycholog:innen wie sie seien Teil dieser Geschichte gewesen, dass Angst etwas Schlechtes, eine Krankheit, sei, die es zu behandeln gilt. "Dieses Narrativ sagt uns, dass wir Angst verhindern, ausrotten und vermeiden müssen. Dass diese schlechten Gefühle Warnzeichen sind und vielleicht eine Fehlfunktion oder ein Versagen des Glücks, der geistigen Gesundheit. Also müssen wir sie beheben."

Und wie tun wir das? Indem wir uns ablenken, indem wir triggernde Situationen, Themen und Menschen meiden. Manche bauen ihr Leben gar um ihre Angst herum, geben ihr die falsche Art von Raum. Dabei ist die Emotion eigentlich ein Schutzmechanismus, er hat unseren Vorfahren zu Zeiten, in denen sie der Natur ausgeliefert waren, das Leben gerettet. Angst versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, damit dieser schnell auf Bedrohungen reagieren kann. Doch wir leben in einer Zeit, in der wir darauf selten mit Kampf oder Flucht reagieren können.

So wird Angst weniger als Schutzmechanismus und wichtiges Warnsignal gedeutet, sondern vermehrt als Ärgernis gesehen, das den Alltag erschwert. Vor einer wichtigen Präsentation wollen wir keine zitternden Hände, keine roten Wangen oder einen flauen Magen. Wenn die Sorge unsere Neugierde überschattet, die Welt zu entdecken, fühlen wir uns von Angst weniger beschützt als vielmehr eingesperrt, gelähmt und eingeschränkt. Die eigentlich so wichtige Emotion wird zum Feind, den es, wie Dennis-Tiwary sagt, auszumerzen gilt.

Psychische Gesundheit bedeutet nicht, frei von Ängsten und Leid zu sein

"Das Gefühl der Angst ist nicht kaputt, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen", so die Psychologin. Das Ärgernis Angst passt auch schwerlich in das Bild des stetig selbstoptimierenden Menschen, der ständig auf Reisen ist, viel und erfolgreich arbeitet und obendrauf noch eine Familie managt. Angst, Unsicherheit, Zweifel, Sorge und Panik passen da nicht hinein, haben keinen Wert in einer Welt, in der Wertigkeit über Status, Likes und Besitz gemessen wird.

Wenn wir Angst als eine Krankheit sehen, neigen wir natürlich eher dazu, sie zu unterdrücken, erklärt Professorin Dennis-Tiwary. Was alles andere als zielführend ist, denn "je stärker wir die Emotion unterdrücken, desto stärker kommt sie wieder zurück. Emotionen sind kein Lichtschalter, den man ein- und ausschaltet. Es gibt ein Spektrum." Wenn wir Angst lediglich als Krankheit ansehen, koste uns das die Möglichkeit, auf sie einzugehen, sie zu betrachten und von ihr zu lernen.

Angst scheint behandelbar: Mit "natürlichen Mitteln" wie Lavendel, Baldrian – oder chemischen Medikamenten. Natürlich gibt es Angststörungen, die medizinisch und therapeutisch behandelt werden müssen, stellt auch die Professorin klar. "Aber dadurch, dass wir Angst im Allgemeinen zu einer Krankheit gemacht haben, haben wir letztlich die falsche Metapher verwendet. Wir können jetzt nicht mehr zwischen den sehr ernstzunehmenden Angststörungen, die sich von der menschlichen Erfahrung der Angst unterscheiden, differenzieren."

Psychische Gesundheit sei nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von emotionalem Leiden und Unbehagen – vielmehr bedeute psychische Gesundheit die Auseinandersetzung mit emotionalem Leiden und das Bearbeiten statt des Umgehens solcher Emotionen.

Hör der Angst zu – vielleicht verrät sie dir etwas Wichtiges

UnterschiedlicheStudien zeigen, dass die Wahrnehmung von Angst als hilfreich und positiv die körperliche Reaktion in unserem Körper verändert. Angst gilt es also nicht unbedingt zu überwinden, sondern auf sie einzugehen, sie aus mehreren Perspektiven zu betrachten. Die Psychologin nennt drei Prinzipien im Umgang mit Angst:

"Das erste Prinzip von Angst ist Information. Hör ihr zu. Das zweite Prinzip ist, dass die Information manchmal nicht nützlich ist. Lass sie los und tauche wieder in die Gegenwart ein. Lass die Zukunftsangst los. Der dritte Grundsatz lautet: Wenn du die Angst losgelassen hast, aber zurückkehrst und feststellst, dass sie doch nützliche Informationen hat – über die Welt, über Dinge, die dir wichtig sind, über die Zukunft, über die Hoffnung –, dann verbinde sie mit einem Ziel."

Als mich die Angst vor dem Tod immer wieder einholte, erkannte ich, was mir meine Psyche sagen wollte: Ich lebe nur einmal auf diesem Planeten, und es gibt Dinge in meinem Leben, die gerade nicht so laufen, wie ich das gerne hätte. Ich war unzufrieden mit meinem Studium, meinem Job, meinem Privatleben. Die Angst trieb mich an, diese Baustellen anzugehen.

Niemand sagt, dass es einfach ist, mit der Angst zusammenzuarbeiten. Manchmal erscheint alles so viel einfacher, wenn sie uns nicht vor allem Möglichen warnt. Aber die Angst ist kein Ärgernis, kein Feind und nichts, was es auszumerzen gilt. Sie reicht uns die Hand – und es liegt an uns, sie zu greifen.

Verwendete Quellen: spektrum.de, greatergood.berkeley.edu, aok.de, journals.sagepub.com, ncbi.nlm.nih.gov

Brigitte

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