Mitte Juni. Acht Grad. Noch gut zwei Stunden bis Mitternacht, aber das Licht ist klar und golden. Was für ein Tag, hatte Katja gesagt, so leuchtet der Himmel sonst nie. Die junge Dolmetscherin will uns zeigen, wie ihre Landsleute den Sommer begrüßen, auf den Straßen, in den Cafés, auf den Plätzen, überall, denn es ist Licht, endlich Licht. Und was für eins: gut 20 Stunden jeden Tag. Da finden die Petersburger kein Ende beim Feiern und Flirten. Vorbei der Endloswinter in der größten nördlichen Metropole des Erdballs.
Wir schlendern zur Schlossbrücke, eine von rund 600 Verbindungen zwischen den Inseln der Stadt. Geisterstunde. Die Straßen erwachen. Ein Absolvent der Schule Nr. 98 (sie tragen hier Nummern statt Namen) hockt sich auf die Kaimauer der Newa und zupft Gitarrensaiten. Neben ihm ein Mädchen im ärmellosen Satinkleid. Immer mehr kommen hinzu, ein improvisiertes Schulabschlussfest auf dem Trottoir, Zaungäste herzlich willkommen. Ein älteres Paar tanzt eng umschlungen über den Asphalt, um ihre Schultern hat er seinen Armeeparka gelegt.
Wenn es hell bleibt
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Die Liebelei gehört dazu in diesen Juninächten, in denen es gerade mal drei, vier Stunden dämmert - und schon beginnt ein neuer Morgen. Es ist das Licht dieser Stunden, dem die weißen Nächte ihren Namen verdanken. Ein schattenloses Licht, das Alexandre Dumas mit dem "irisierenden Schillern eines Opals" verglich. Wie ein Schleier überzieht es die Fünf-Millionen-Metropole mit ihren Prachtbauten und lässt selbst Morbides milder erscheinen.
"In den weißen Nächten fühlt man sich so frei", schwärmt German. Der 25-jährige Supermarktleiter stochert in seinem TexMex-Food im Havana Club, derzeit der Szenetreff der Petersburger Jugend. Im hinteren Raum: Techno-Gewummer im Trockennebel. Die Disco-Fraktion tanzt nebenan unter einer rotierenden Spiegelkugel. "Wenn der Himmel weiß ist, erlebt man sich selbst neu", ruft Katja mir zu und zieht mich in den Hexenkessel. Die bekannten Highlights von Petersburg sind eine andere Welt. Der Newskij Prospekt zum Beispiel, der Boulevard, auf dem Versace & Co residieren. Russlands Topdesignerin Tatyana Parfionova schickt hier barbusige Elfen über den Laufsteg, und in den Hotels kostet eine Suite an die 2000 Euro. Vor den alten Imponierbauten im Zuckerbäckerstil zittern Bettler im Dreck und brabbeln Gebete vor sich hin.
Zeit für Illusionen
Hier hat auch Andrej Ananov seine Schauräume. Früher Spitzensportler und Alkoholiker, Bühnendirektor und Jelzin-Berater, noch immer bekanntester Juwelier des Landes, der die Grimaldis ebenso versorgt wie die Queen. Ananov empfängt uns am nächsten Tag in der Goldschmiede, in der linken Hand ein Handy, rechts der Hörer eines konventionellen Apparats, ein zweites Mobiltelefon klingelt. "Als ich jung war, habe ich ein Stück von Dostojewski über die weißen Nächte gelesen. Danach hatte diese Zeit eine romantische Färbung für mich. Diese drei Wochen ändern etwas in den Menschen. Sie geben ihnen Illusionen - und das ist gut."
Illusionen brauchen die Petersburger. Den Großteil des Jahres, wenn die Sonne sie nicht elektrisiert, drücken die Sorgen um so schwerer aufs Gemüt. Die Gesellschaft ist zerrissen in wenige Reiche, viele Arme und eine hauchdünne Mittelschicht. Arbeitslose Frauen verkaufen Wiesenblumen und Katzen auf der Straße. "Wir haben teure Ausbildungen und leben wie die Bettler", erzählt eine Mathematikerin. 21. Juni. Die kürzeste Nacht des Jahres. Unser Ausflugsschiff legt vor der hell erleuchteten Schlossbrücke am Winterpalast an, dort, wo die Bolschewiken-Revolution ihren Lauf nahm. Den Schlossplatz hat in diesen Tagen die Jugend belagert: Tagsüber skaten sie hier, spielen Streetball. Heute Abend prallt Techno-Stakkato als Echo von den Palastfassaden. Neue Zeiten für einen altehrwürdigen Platz.
Die Sonne flirrt am Horizont. Am Newa-Kai haben schwimmende Diskotheken festgemacht, zusammen mit den Nachtcafés und Bierständen bilden sie eine meilenlange Freiluftbar. Von überall strömen sie jetzt her, wild entschlossen, sich zu amüsieren. Der Höhepunkt um ein Uhr vierzig. Die Schlossbrücke klafft in der Mitte auseinander, langsam klappen ihre riesigen Flügel hoch, bis die Straße mit ihren Laternen bizarr in den Himmel ragt. Und da kommen auch schon die ersten Frachter, denen nur ein paar Stunden bleiben, um die zwei Dutzend Klappbrücken auf ihrem Weg durch die Stadt zu passieren, bevor die Straßen mitsamt ihren Laternen wieder heruntergelassen werden.
Petersburg im surrealen Zwielicht. Die Zarenstadt tanzt und reckt sich aus der Vergangenheit. Nie mehr schlafen nach dem Winter, der von November bis März gedauert hat. Noch im Mai glitzert die Newa vom Eis, das sie mit sich trägt. Drei Monate sind Winter, der Rest ist Herbst, sagen die Einwohner. Und unterschlagen mal eben die Hauptsaison: die weißen Nächte.
Reise-Infos St. Petersburg
St. Petersburg Telefon: Die Vorwahl für St. Petersburg ist: 007/812.
BESTE REISEZEIT Die weißen Nächte dauern in St. Petersburg vom 11. Juni bis zum 2. Juli, Höhepunkt ist die Mittsommernacht am 21. Juni.
ANREISE Günstige Flüge zum Beispiel bei der Petersburger Airline Pulkovo, Tickets ab Berlin ca. 300 Euro. Ein Visum ist erforderlich.
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UNTERWEGS Ohne Russisch-Kenntnisse am besten anfangs einen Stadtführer oder Dolmetscher bestellen (alle Schilder und Speisekarten nur auf Kyrillisch). Z. B. die Deutschlehrerin Valentina Bugrova (Tel. 274 15 95, Bakunina pr., 19/25-54) für rund zehn US-Dollar pro Stunde, Führungen auch per Auto. Registrierte Taxen sollten 10 Rubel (ca. 0,40 Euro) Einsteigegebühr plus 5 Rubel (ca. 0,20 Euro) pro km berechnen; Vorsicht: Besonders die Wagen vor den internationalen Hotels verlangen mehr. Der zentrale Taxiruf, rund um die Uhr erreichbar: Tel. 312 00 22. Wassertaxis z. B. ab der Anitschkow-Brücke auf dem Newskij Prospekt, nachts auch ab der Schlossbrücke, Preis aushandeln. Mit dem Motorschiff "Meteor" gelangt man alle halbe Stunde auch nach Petershof (Foto unten), pro Strecke ca. 15 Euro, Anlegestelle rechts gegenüber vom Haupteingang der Eremitage.
UNTERKOMMENSaint-Petersburg International Hostel: für Globetrotter, zentral gelegen und ordentlich; DZ ca. 55 Euro inkl. Frühstück, Mehrbettzimmer ca. 22 Euro pro Person (Sovetskaja 3 - ja ul., Hausnr. 28, Tel. 329 80 18, Fax 329 80 19, www.ryh.ru). Hotel Matisov Domik: familiengeführtes Drei-Sterne-Haus; DZ ab 92 Euro (Pr'azhki reki nab. 3/1, Tel. 318 54 45, Fax 318 74 19), www.saint-petersburg-hotels.com/matisovGrand Hotel Europe: Hier verkehrten schon der Zar, Rasputin und Dostojewski (Foto unten); www.grandhoteleurope.com.
ESSEN UND TRINKENDavidov's: goldene Samtsofas, Kronleuchter, viel Holz im Hotel Astoria. Aufgetischt wird Kaviar (ab 21 Euro für 100 g) mit Rahm, Frühlingszwiebeln, gehacktem Ei sowie gegrillter Stör für ca. 17 Euro (Bolshaya Morskaja 39, Tel. 313 58 15). Na Zdorovie: gemütliches Restaurant, manchmal Live-Musik (Bol'soj Prospekt 13/4, auf der Insel Petrogradskaja Storona, Tel. 232 40 39). Café Idiot: Hier gibt' s sogar vegetarische Speisen und hausgemachte Zitronenlimonade (Mojki reki Nabereschnaja 82, Tel. 315 16 75). Sakura: super Sushi, serviert von einem Tokioter Meister. Sechs Stück plus Suppe ab 29 Euro (Gribojedova kan. 12, Tel. 315 94 74). The Old Customs House: internationale Küche und elf Sorten Wodka in russischen Einheiten, sprich 5 cl (Tamozhenny per. 1, Tel. 327 89 80). Gourmetgeschäft Jelissejew: Feines fürs Picknick oder als Souvenir. Unter hohen Decken, goldenem Stuck und Leuchtern gibt es einfach alles, von verzierten Torten über russischen Kaviar bis zu Salami (Foto unten) (Newskij Prospekt 56).
NightlifeTschaika: Hier trifft sich halb Petersburg, vom Arbeiter bis zum Kurzgeschichtenschreiber (Gribojedova Kanal 14, Ecke Newskij Prospekt, Tel. 312 46 31). The National Hunt: ein bisschen Kneipe, ein bisschen Bar, ein bisschen Disco nahe Newskij Prospekt. Di. von 20 bis 22 Uhr freier Eintritt, kostenlose Drinks für die Damen (Foto unten) (Malaya Morskaja ul. 11). Havana Club: eine der angesagtesten Adressen, im lateinamerikanischen Stil gehalten. Partys von Pop bis Techno. Eintritt ca. 3 bis 5 Euro (Moskovskij Prospekt 21, Tel. 259 11 55). Gribojedow: Petersburgs Szene-Club Nummer eins, in einem ehemaligen Luftschutzbunker. Auch Live-Musik. Außerdem Bar und Chill-out-Room. Eintritt ca. 5 Euro (Voronezhskaja ul. 2 a).
EXTRA-TIPPSDachwanderungen: bietet Peter Kozyrev auf Englisch an sowie individuell zusammengestellte Sightseeing-Touren (c/o Saint-Petersburg International Hostel, Sovetskaja 3 - ja ul., Hausnr. 28, Tel. 329 80 18, Fax 329 80 19, ). Tichwinskij Künstlerfriedhof: mit den Gräbern von Dostojewski und den Komponisten Mussorgski, Tschaikowsky und Rimski-Korsakow (Alexander-Newski-Platz, östliches Ende des Newskij Prospekts). Märkte: "Kuznetschnyj Rynok" (Kuznechy Pereulok 3) und "Kondratjewski Rynok" (Pol'ustrovskij Prospekt 45) mit Spezialitäten aus allen Ecken des Landes, von Knoblauchsprossen bis zu Bärenfellen.
LESE-TIPPS"Sankt Petersburg": optisch sehr ansprechender Reiseführer aus der Reihe "vis-a-vis" mit vielen Informationen (Dorling Kindersley, 20,90 Euro). "Russland verstehen": 50-seitige Broschüre und eine ausgezeichnete Einführung in die Geschichte und Kultur des Landes (gegen 3,40 Euro vorab in Briefmarken vom Studienkreis für Tourismus und Entwicklung, Kapellenweg 3, 82541 Ammerland/Starnberger See). "Weiße Nächte, dunkle Tage": literarischer Reisebegleiter von M. Marginter und F. Gawrilow (Klett-Cotta Verlag, 19 Euro). "Die weißen Nächte": ein Roman von Fjodor Dostojewski über eine unerfüllte Liebe, ein Muss (Reklam, 2,60 Euro).
INFOCity Tourist Information Center (Tel. 311 28 43, Fax 311 29 43, Newskij Prospekt 41, ), alles Sehens- und Wissenswerte über die Stadt sowie aktuelle Veranstaltungshinweise. St. Petersburg - The Official City Guide, eine Gratisbroschüre, die in vielen Hotels, Restaurants, Reisebüros ausliegt, auch im Internet unter www.cityguide.spb.ru. Besonders interessant: die Shopping-Tipps für Porzellangeschäfte und Galerien.