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Italien: Kalabrien

Italiens stiller Süden: Wilde Berge, schöne Strände.

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Wären die Regionen Italiens eine Großfamilie, Kalabrien würde die Rolle des Stiefkindes einnehmen, das abseits der Erwachsenen am Katzentisch sitzt. Mit schönem, schmutzigem Gesicht und zerrissenen Kleidern darf es nicht neben der kultivierten Toskana und dem eitlen Veneto essen.

"Kalabrien? Zehn Tage wollen Sie da rumfahren?", hatte uns schon der römische Steward im Flugzeug erstaunt gefragt. "È un po terzo mondo, no?" Das ist ein bisschen dritte Welt da unten, nicht wahr? Alles, was im Reiseführer steht, hört sich nach Entdeckungsreise an - nach viel Abenteuer und wenig Komfort. Nur jeder dritte hat einen Job auf dem Spann der italienischen Stiefelspitze. "O emigrante, o brigante", sagen die Kalabresen: Entweder auswandern (seit 1970 verließen 3,5 Millionen Menschen die Region) oder Mafioso werden, das sind die Perspektiven. Diejenigen, die dableiben und sich nicht mit dem organisierten Verbrechen, leben von ein paar Orangenbäumen. Oder dem Fischfang.

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Wir schaukeln in unserem Fiat die steilen Gassen von Bagnara hinauf Richtung Norden: durch Torbögen, an denen Efeu bis auf die Straße hinabängt, an Madonnen-Statuen vorbei, an Kindern, die uns Kusshände zuwerfen. Wir sind offenbar die einzigen Touristen aus dem Ausland, die sich so weit in den Süden wagen. 450 Meter geht es die Serpentinen hinauf, bevor wir auf die Autobahn A3 fahren. Auf dem Mittelstreifen wächst dunkelroter Oleander wie eine Wand aus Blüten. Keine Autobahn, eine Allee ist das, eine vergessene Prachtstraße in ewiger Mittagsruhe. 90 Prozent Kalabriens ist bergig, die Felsen ragen oft bis an die Strände heran, doch ist der italienische Stiefel hier so schmal, dass selbst die Orte im Landesinneren nie weiter als 50 Kilometer vom Wasser entfernt sind.

Die Karibik Kalabriens - so nennen die Italiener den Küstenstreifen zwischen Bagnara Calabra und Lamezia Terme. Die Aussicht von der Küstenstraße ist wie ein Blick in einen Reisekatalog. Nur dass die Farben echt sind und das Meer so sauber ist, dass die italienische Umweltorganisation Lega Ambiente regelmäßig Bestnoten in Sachen Wasserqualität vergibt.

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Der einzige wirklich für den Tourismus erschlossene Ort heißt Tropea. Er soll aus der Zeit stammen, als die Griechen hier Tempel und Theater bauten, für die auf dem Peleponnes kein Platz war. Zu viel, zu schön, so malerisch, dass es kitschig wirkt, irgendwann hören wir auf zu fotografieren. Erst in den 60er Jahren wurde es schick, an der Küste Urlaub zu machen. Vorher gab es hier Malaria, keine Hotels, nicht mal richtige Straßen. Vom Mittelmeer in die kalabresischen Alpen. Nach vier Stunden Fahrt Richtung Parco Nazionale della Calabria wird es kalt im Auto. Die Berge sind mit schlanken Kiefern bewaldet, kein Auto kommt uns entgegen. Rot-weiße Schilder an den Baumstämmen warnen vor Wilderern. Villagio Mancuso ist eine Siedlung aus schwarz-weißen Fachwerkhäusern, die alle mit einer dicken Schicht Tannennadeln bedeckt sind. Auch unser "Feenpark", das Hotel "Parco delle Fate". Ein 200-Betten-Haus aus den 30er Jahren, ausgestattet mit dunkler Holzverkleidung und dicken Teppichen. "Der Regisseur Luchino Visconti, Sophia Loren, die Barone von Sizilien und Papst Pius XII. waren regelmäßig unsere Gäste", sagt der Kellner Frederico und stellt einen Kerzenleuchter auf den Tisch - das einzige Licht im Speisesaal. Mit der Bemerkung, er schlafe nur ungern in dem düsteren Hotel, fährt Frederico nach dem Essen mit dem Auto nach Hause. Unruhig wälzen wir uns nachts in den Betten.

Vom Bergdörfchen Civita sind wir eine halbe Stunde lang schwitzend einen Betonweg, dann ein Schotterfeld hinabgestiegen. Und jetzt stehen wir still vor Ehrfurcht. "Eine der schönsten Schluchten Europas", so hatte es der Reiseführer versprochen. Giuglio, der römische Ökoladenbesitzer, den wir mit seiner Freundin beim Abstieg in die Raganello-Schlucht kennen gelernt haben, bringt es mit einem einzigen Wort viel besser auf den Punkt: Paradiso. Klares Trinkwasser, in dem wir Forellen und hellgraue Kiesel sehen. Die Felswände ragen orangefarben, ockergelb und schiefergrau empor, bewachsen mit Oleander. Rechts schießt ein Wasserfall hinab, ein Sprühnebel, in dem Giuglio mit ausgebreiteten Armen steht. Oder ist es die Nymphengrotte 80 Kilometer weiter nördlich? Die Griechen haben vor 2800 Jahren die Gegend um Sibari besiedelt. Anfangs fehlte es ihnen an allem, was sie aus ihrer Heimat jenseits des Meeres kannten: Vergnügen, Luxus, Entspannung. Und so bauten die Bewohner der Handelsstadt ihren eigenen Beauty-Salon in die karge, wilde Landschaft Kalabriens: die "Grotta delle Ninfe".

"Was könnte man hier für Geld verdienen!", sagt Walter Olivati, 43, Geschäftsmann aus Mailand. Wie eine zum Leben erwachte Statue steht er neben uns am Spiegel. "Kalabrien fehlt die Infrastruktur. Die Landschaft? Fantastisch. Die Natur? Unberührt. Das Essen? Sogar nach Mailänder Maßstäben exzellent." Olivati schaut ernst aus seiner grüngrauen Maske. "Aber sonst fehlt es an allem." Eine Ferienanlage müsste man hier bauen, bessere Straßen, vielleicht einen weiteren Flughafen, sinniert Signore Olivati, die Preise anheben und richtig Geld verdienen, ja, das wär's. Ist es die Abendsonne, der entspannende Schlamm oder das zweite Bier, das er am Rand der Schwefelquelle mit uns trinkt? Auf jeden Fall wird Walter Olivatis Unternehmergeist plötzlich milde: "Oder wir lassen alles so, wie es ist." Signore Olivati zwinkert - und macht eine Kunstpause. "Und verraten niemandem, dass es diesen Ort gibt."

Reise-Infos Kalabrien

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ANREISE Alitalia fliegt zum Beispiel von Frankfurt nach Lamezia Terme ab 255 Euro. Charterflüge von Aero Lloyd, LTU und Thomas Cook (Condor) von allen großen deutschen Flughäfen nach Lamezia Terme ab 269 Euro.

HOTELSGrand Hotel San Michele: das eleganteste Hotel Kalabriens - ein prunkvolles Herrenhaus an der Westküste (8–9 loc. Bosco, Cetraro, Tel. 09 82/910 12, Fax 914 30,).

Hotel Murat: einfaches Hotel in der Altstadt von Pizzo, eingerahmt von Bars und Eisdielen. Zehn Minuten zu Fuß zum Sandstrand; (Piazza Repubblica 41, Pizzo, Tel. 09 63/53 42 01, Fax 53 44 69).

Le Roccette San Leonardo: Ferienanlage unweit der Altstadt an die Felsen von Tropea gebaut, und einer der besten Strände Süditaliens. Kleine Bungalows in einer Parkanlage; Appartements für vier Personen (Via Mare Piccolo, Tropea, Tel. 09 63/618 69, Fax 612 13).

RESTAURANTS UND BARSDa Cecè: das beste Pasta-Restaurant von Tropea. Tische auf der Piazza, besonders gut Spaghetti mit roten Zwiebeln oder frittierten Zucchini-Blüten (Largo Toraldo Grimaldi, Tropea, Tel. 09 63/60 32 19).

A casa janca: Rita Callipo kocht Vier-, Fünf- oder Sechs-Gang-Menüs, rustikale Spezialitäten, die Gemüse zum Teil selbst angebaut. Auch Zimmer für 80 Euro inkl. HP (Riviera Prangi, Pizzo, Tel. 096 32/643 64).

La Locanda di Zio Rocco: einfaches Straßenrestaurant mit weißen Plastiktischen, aber das Essen (Pasta ab 4 Euro) ist hervorragend und fast immer mit großen Mengen frischer Peperoni zubereitet (Largo San Biagio, Diamante, Tel. 03 68/749 84 98).

Bar Dante: Hier soll die Schoko-Eisspezialität "Tartufo" erfunden worden sein, pro Portion 4 Euro (Piazza della Repubblica 38, Pizzo, Tel. 09 63/53 41 50).

INFO Italienisches Fremdenverkehrsamt Enit, Kaiserstraße 65, 60329 Frankfurt, Tel. 069/23 74 34, Fax 23 28 94. Im Internet unter www.enit.it.

Text: York Pijahn Fotos: Melanie Dreysse

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