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Wenn jemand uneins mit mir ist und auch noch stärker als ich, dann gehe ich ihm normalerweise aus dem Weg. Leider bringt diese Strategie jetzt nichts: Ich befinde mich in der irischen Ortschaft Rathdrum und zerre an einem Seil. Am anderen Ende des Seils ist ein Esel befestigt. Und steht. Seit etwa einer halben Stunde spielen wir nun schon Tauziehen in der Öffentlichkeit. Eine halbe Stunde, in der ich gesäuselt, gefleht, gebrüllt habe, um das Tier zum Laufen zu bringen; in der ich herumgehüpft bin, als wolle ich in der irischen Tanzshow Riverdance auftreten. Doch der Esel ist gut im Stehen. Er blickt mich an, sanft und unnachgiebig und auch ein wenig verwundert: Was für ein Theater diese Touristin veranstaltet, herrje, jetzt kommen wegen ihr schon die Anwohner aus den Häusern. "Machen Sie mit dem Esel Ferien?", fragt einer. "Ja", sage ich, "aber er will nicht mitmachen." - "Vielleicht ist er schon alt", meint der Mann. "Er wirkt eher jung", widerspricht eine Frau. "Vielleicht hat er Arthritis?", fragt eine betagte Nachbarin. "Ach was, der ist bloß stur", sagt wieder ein anderer, "ziehen Sie noch mal vorn am Seil, ich schiebe von hinten!" Wie bin ich bloß in diese Slapstick-Nummer geraten?
Fasziniert haben Esel mich schon immer. Vielleicht, weil sie mit ihren übergroßen Ohren, langen Gesichtern und kurzen Beinen wie Karikaturen von Ponys aussehen. Vielleicht habe ich in meinem Leben auch zu viele Geschichten gehört, in denen Grautiere musizierend Räuber verjagten, Jesus herumtrugen oder grüne Oger beschützten - da muss man die Viecher doch irgendwann für die Krone der Schöpfung halten. Ich buchte jedenfalls sofort, als ich im Internet auf ein Angebot stieß: Wandern mit einem Packesel in der Grafschaft Wicklow, einem Landstrich, der auch als Garten Irlands bezeichnet wird. Mit grünen Bergen und Tälern, heidevioletten Plateaus, verwunschen glitzernden Seen und Pensionen, die eine Koppel für Tiere besitzen.
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Auf der Carrigmore Farm unterwies man mich noch kurz in Eselskunde: Beine, Bauch und Kopf nur mit weichen Bürsten putzen. Regelmäßig kontrollieren, ob sich Steine in den Hufen verkeilt haben; oder ob der Gurt sich gelockert hat, mit dem die Gepäcktasche auf dem Rücken festgezurrt ist. Ach ja, und nicht vor, sondern neben dem Tier gehen - Esel haben ihren Stolz! Dann zuckelten wir los, ich und Dinny: ein braunweiß gescheckter Wallach mit Wimpern, um die ihn sogar Daisy Duck beneiden würde. Mit einem Fell wie ein Flokati. Mit Ohren, die ein paar Zentimeter länger sind als mein Unterarm und die unabhängig voneinander in alle Richtungen propellern können.
Jetzt sind wir in Rathdrum, etwa 50 Kilometer südlich von Dublin. In einem Ort, dessen Hauptstraße von kleinen bunten Häusern gesäumt ist und der einiges zu bieten hat: Es gibt eine evangelische und eine katholische Kirche, die an verschiedenen Ortsenden stehen, wir sind schließlich in Irland. Es gibt die Kneipe "Cartoon Inn", deren Wände mit Karikaturen bemalt sind - ein Relikt aus den 90ern, als in Rathdrum jährlich ein Cartoon-Festival stattfand. Es gibt ein Flüsschen, das Einheimische stets mit den Worten "Hello fairies!" überqueren, weil dort angeblich die Elfen wohnen; und wer die Elfen grüßt, hat Glück. Außerdem wurden in Rathdrum ein Spice-Girls-Video und Szenen für einige Filme gedreht, zum Beispiel für "Michael Collins".
Momentan aber sind mein störrischer Esel und ich die Hauptattraktion. Die Zahl der Umstehenden wächst, und proportional die Absurdität ihrer Ratschläge: "Ich habe gehört", empfiehlt einer, "man müsse Esel anfangs einmal mit den Händen niederringen, damit sie gehorchen." In meiner Verzweiflung beginne ich fast schon, über die Verwirklichung solcher Tipps nachzudenken. Da verstehe ich plötzlich, was Dinny missfällt: Argwöhnisch beäugt er einen Gullydeckel vor uns. Unter Applaus des Publikums umrunden wir das gefährliche Objekt großräumig. Bis wir Rathdrum verlassen, sind wir so noch etlichen Gullys entronnen. Und ich habe einen Grundsatz begriffen, der sich während unserer einwöchigen Reise immer wieder bestätigen wird: Der Begriff "Eselwandern" besagt, dass der Mensch mit dem Esel wandert - und nicht etwa umgekehrt. Ich bin es, die sich nach Dinny richten muss.
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Was ich im Gegenzug davon habe, mich einem Esel anzupassen, das erkenne ich erst nach und nach an den folgenden Tagen. Zum Beispiel auf dem Weg in das Dorf Avoca: Vögel zwitschern der Sonne fröhliche Limericks vor. In der Nähe bähen Schafe mit Sprühmarkierungen im Fell - Tupfen, so blau wie der Himmel. Auf heckenbegrenzten Straßen, deren Idylle nur selten von einem Auto gestört wird, trippelt Dinny dahin. In seinem Standardtempo von etwa drei Stundenkilometern - so dass ich ihn mit meinen Großstädter-Schritten immer wieder überhole. Doch davon lässt er sich nicht beirren. Mitunter regt sich auch sein Eselsstolz, und er fährt die Geschwindigkeit sogar noch weiter herunter, bis ich auf ihn warte. Irgendwann habe ich sein Tempo endlich verinnerlicht. Und merke, dass die Langsamkeit der Schritte eigentlich guttut. Sie entspannt. Esel-Qigong.
Als ich anschließend die Weberei von Avoca besichtige, die älteste des Landes, stehe ich staunend vor einem alten Holzwebstuhl: 18 Meter Stoff kann er am Tag produzieren, das ist doch eine Menge! Seine Automatik- Nachfahren im Nebenraum hingegen, die auf 200 Meter kommen, betrachte ich jetzt skeptisch. Immer diese Hektik.
Dank Dinny entdecke ich jedoch nicht nur die Langsamkeit - das Land zeigt sich auch immer wieder von ungewohnten Seiten. Fremde Menschen sprechen mich auf der Straße an. Hunde flüchten vor mir. Und dann sind da noch Erlebnisse wie dieser Regentag: Die Wälder der Wicklow Mountains weisen eigentlich mehr Grünschattierungen auf, als sich ein deutscher Gärtner überhaupt vorstellen kann. Jetzt aber trübt ein Tropfenschleier die Landschaft, als sei sie über Nacht ergraut. Allein hätte ich heute sicher den Bus genommen, doch Esel sind in irischen Bussen eher unerwünscht. Und da wir am Abend in der nächsten Pension erwartet werden, bleibt uns nichts anderes übrig, als zu laufen.
Schon nach kurzer Zeit ähnelt Dinny dem Ungeheuer von Loch Ness und ich einer ramponierten Waldfee. Man kann gerade bis zur nächsten Pfütze schauen. Doch dafür wachen, wo nichts zu sehen ist, meine Ohren plötzlich auf - hören ein Regenkonzert: Wasser rauscht in der Luft. Zischt, wenn Autos durch Pfützen fahren. Prasselt, wenn ich meine Handschuhe auswringe. Schmatzt unter den Schuhsohlen. Trommelt auf den Asphalt, verschwindet glucksend in Gullys, plätschert als Flüsschen unter einer Natursteinbrücke hindurch.
Als wir bei der Pension ankommen, kann ich verstehen, warum es heißt, die Menschen hier hätten auf Gälisch fast so viele Wörter für Regen wie die Inuit für Schnee. Und ich frage mich, ob man von irischem Regenwasser betrunken werden kann - denn nicht nur ich bin übermütig, auch mein Esel: Als ich Dinny auf die Koppel bringe, campieren dort schon ein paar Planwagentouristen mit ihren Pferden. Dinny trabt auf einen der Wagen zu. Reibt seinen Kopf daran, so dass das Gefährt erzittert. Und die darin wohnende amerikanische Familie, ein Erdbeben vermutend, schreiend ins Freie rennt. Dann wälzt er sich auf der durchweichten Wiese, als wolle er sein Fell ein- für allemal einheitlich färben.
Glendalough ist die letzte Station unserer Tour. Hier, im wild überwucherten "Tal der zwei Seen", hat der Heilige Kevin im 6. Jahrhundert ein Kloster gegründet. Später wurde die Stätte eine Zeit lang Bischofssitz; wieder später ein Wallfahrtsort, der auch für Prügeleien bekannt war, da die Gläubigen dem irischen Whiskey huldigten. Als ich zwischen den Skeletten steingrauer Kirchlein herumschlendere, bin ich schon so im Banne meiner Reise, dass ich alles nur noch aus Eselwanderersicht wahrnehme: So so, Sankt Kevin war ein Tierfreund - kann Dinny sich so gut gegen mich durchsetzen, weil der Heilige ihn unterstützt?
Überhaupt hat Dinny mich inzwischen nicht schlecht dressiert: Mitunter laufe ich sogar dann um Gullydeckel herum, wenn er gar nicht dabei ist. Ich rede beim Wandern vor mich hin, denn mein Begleiter liebt verbale Zuwendung. Ich schaue nach einem Abend im Pub im Dunkeln noch mit einer Möhre an der Koppel vorbei. Und ich betrachte die Flora vorwiegend unter einem Aspekt: Schafsgarbe, Löwenzahn, irische Eiche - was schmeckt Eseln am besten?
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Ich drohe gerade die Peinlichkeitsgrenze zwischen Tierfreundin und -närrin zu überschreiten, da lerne ich Jimmy kennen. Jimmy wohnt im nahen Laragh, ist 73 Jahre alt und hat ein Gesicht, das nicht anders vorstellbar ist als lächelnd. Er bietet Kutschfahrten mit Pferden an - liebt aber auch Esel: Als er jung war, besaß hier fast jeder einen. Man spannte sie vor Karren, um Holz, Torf oder Milch zu transportieren. Man ließ Kinder auf ihnen reiten. Die Tiere seien billig und genügsam, schwärmt Jimmy, sanftmütig und treu. Ob die Esel früher auch mal Angst hatten, so wie Dinny vor Gullydeckeln? Jimmy schüttelt den Kopf: "Die fürchten sich eigentlich nie. Sie suchen nur gern Ausreden, um stehen zu bleiben." Aber sehr langsam gelaufen - das sind die Tiere damals doch auch? "Klar, beim Warentransport war das oft sogar erwünscht." Jimmy schweigt. Blättert in seinen Erinnerungen. Er kann nicht wissen, wie sehr es mich erschüttert, als er dann hinzufügt: "Sie gehen langsam, solange man sie lässt. Es gab früher in dieser Gegend aber auch jährlich ein Derby, zu dem man seinen Esel anmelden konnte. Das war ein Galopprennen."
Reise-Infos: Mit dem Esel durch Irland
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MIT DEM ESEL DURCH IRLAND Unterwegs in entspanntem Tempo und malerischer Natur, mit einem charmanten Reisegefährten, der noch dazu das Gepäck trägt: Das ist das Konzept der Eselwanderungen. Außer in den Wicklow Mountains bietet der Veranstalter in Irland auch Touren in den Grafschaften Clare und Galway an. Erfahrung mit Eseln ist keine Voraussetzung, Einweisung auf der Farm. Eine Woche in Wicklow inkl. Esel, Futter und Ausrüstung, Routenbeschreibung, Karte und DZ/F ab 780 Euro pro Person (Katja van Leeuwen Reitferienvermittlung, An den Eichen 1, 53639 Königswinter, Tel. 02 244/9279249, Fax 02 244/92792471, www.reitferien-in-irland.de).
LESEN "Irland". Der Esel wird an diesem dicken Reiseführer zwar etwas schwerer tragen. Dafür ist das Buch aber übersichtlich, lesefreundlich, sehr informativ und enthält viele Detailkarten. Dazu gibt es zahlreiche Themenkästen - zum Beispiel mit Tiergeschichten über den heiligen Kevin (Michael Müller Verlag, 24,90 Euro).
SEHEN "Michael Collins". Film über den umstrittenen Führer im Kampf gegen die britischen Kolonialherren. Erzählt wird die Geschichte des irischen Unabhängigkeitskampfes vom Osteraufstand 1916 bis zur Ermordung von Michael Collins im Jahr 1922 - und gleichzeitig auch eine tragische Liebesromanze. Neben Liam Neeson in der Titelrolle spielte auch Julia Roberts mit (Regie Neil Jordan, DVD 9,95 Euro).
INFORMATION Irland Information Gutleutstr. 32, 60329 Frankfurt, Tel. 069/66 80 09 50, Fax 92 31 85 88, www.entdeckeirland.de