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Pyrenäen: Wandern mit Hund

Alles ist ziemlich anders beim Wandern mit Hund. Das Klettern in Canyons, das Baden in Flüssen, die Gespräche der Menschen. Olga, der Hund der Schriftstellerin Juli Zeh, war in den Pyrenäen - und hat uns das aufgeschrieben.

Ende August holt mein Frauchen die größte Reisetasche aus dem Schrank. Sofort verfalle ich in Schreckstarre. Im Gegensatz zum Menschen verbringen wir Hunde unseren Jahresurlaub meist in der Hölle, genannt Tierpension. In Flugzeugen, Bahnen und Bussen sind wir lästiges Übergepäck, in Hotels nicht gern gelitten, am Strand verboten. Und skifahren können wir auch nicht. Mit Beginn der Saison verwandeln wir uns vom treuen Begleiter in ein logistisches Problem.

Beklommen zähle ich die bereitgelegten Socken. Es sind mehr als zehn Paar - das bedeutet Weltuntergang. Dann aber stopft mein Frauchen außer Mückenschutzmittel und Sonnencreme eine aufgerollte Ersatzleine in den letzten freien Winkel ihrer Reisetasche. "Freu dich", erwidert sie meinen fragenden Blick. "Wir fahren auf eine Hundewanderung."

Auf eine was? Während der folgenden zweitägigen Autofahrt rechne ich vorsichtshalber damit, dass ich dieses Jahr in eine weit entfernte Pension gebracht werden soll. Sehr weit entfernt. Anscheinend liegt sie mitten in den Pyrenäen. Genauer gesagt: in der Sierra de Guara, am Ende einer endlosen Serpentinenstraße. Im Städtchen Rodellar, das als Handvoll Häuser mit dickem, quadratischem Kirchturm auf einer mondbeschienenen Anhöhe liegt.

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Erschöpft von der Anreise, verschlafen wir die Nacht in einem saunagroßen Holzbungalow. Als ich am Morgen auf die Schwelle trete, sehe ich klarer: Wir sind nicht in der Hölle, sondern auf einem Campingplatz. Die Luft ist überraschend kalt, schmeckt nach Trinkwasser und löscht mit einem Schlag den Dauerdurst eines langen, stickigen Großstadtsommers. Der Horizont präsentiert eine eindrucksvolle Kulisse karstiger Berggipfel, für musikalische Untermalung sorgen die Glocken einer Schafherde. In wenigen Schritten Entfernung richtet eine Gruppe Menschen auf dem Gras zwischen den Holzhütten ein Open-Air-Frühstück her. Die Zweibeiner tragen kurze Hosen und festes Schuhwerk. Das ist ein gutes Zeichen. Erst als ich nah herangekommen bin, erkenne ich, was da überall im Schatten liegt. Es sind Hunde. Mehr Hunde, als ich jemals auf einem Haufen gesehen habe. Und alle mit misstrauischer Miene.

Schwanzwedelnd wende ich mich an eine Dackeldame, die damit beschäftigt ist, einen hoch im Baum hängenden Schinken anzubeten. Sie heißt Dr. Lisa und kommt aus Bremen. "Weiß auch nicht, was das soll", brummt sie. "Hat irgendwas mit Wandern zu tun." So weit war ich auch schon. Eine halbe Stunde später ziehen wir durchs Städtchen, 21 Hunde und 16 Menschen, durch ein Netz aus Leinen miteinander verbunden, entlang der alten Mauern aus mörtellos ineinander gesteckten Steinen, hinter denen Feigen- und Olivenbäume wachsen. Am Straßenrand bleiben bunt gekleidete Freeclimber stehen, um uns nachzusehen. Wir sind ein Aufmarsch, eine Hundeparade auf dem Weg in die Wildnis, und sehen vermutlich genauso komisch aus, wie wir uns fühlen.

Der Abstieg zum Canyon Mascún bietet einen Vorgeschmack auf die Art von Wildnis, die uns hier erwartet: Sie ist steil. Im trockenen Flussbett umringen wir einen Mann namens Michael. Wenn er spricht, sind alle ruhig, und als ich ihn anbelle, beachtet er mich gar nicht. Zweifellos handelt es sich um einen Rudelführer.

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"Einfach ableinen", sagt er zu den Menschen. "Alles Weitere können die allein." Als die Karabiner klicken, laufen wir eine Weile hektisch durcheinander. Die Mehrheit entscheidet sich für friedliche Koexistenz und Balance of Power. Terrier Erik, der es nicht lassen kann, den zehnmal größeren Wolfshund Chester anzupöbeln, wird von Michael kompromisslos zur Schnecke gemacht: "Heb dir deine Kräfte lieber fürs Klettern auf!" Ein Blick nach oben zeigt, was er meint. Um uns herum erheben sich Bergwände zu schwindelerregender Höhe. Das Wasser hat Türme, Zinnen, bizarre Höhlen und Galerien aus dem weichen Kalkstein gewaschen - die Silhouette einer steinernen Märchenstadt. Im schmalen Streifen Himmel zwischen den Rändern der Schlucht kreisen Geier. "Haltet den Dackel fest!", ruft mein Frauchen. "Von oben sieht er bestimmt nach Kaninchen aus!" Erstaunt sehe ich zu ihr hinüber. So klingt sie nur, wenn sie seit dem Aufstehen kein einziges Mal an ihre Arbeit gedacht hat. Was selten vorkommt. Überhaupt ist der Canyon von einem ganzen Konzert aus fröhlichen Stimmen erfüllt.

"Wer zuletzt lacht", knurrt Dr. Lisa. "Wollen doch erst mal sehen, wie die Krone der Schöpfung die Ziegenpfade hinaufkommt!" An einer Quelle werden Mägen und Flaschen noch einmal betankt, dann zieht die Karawane den Berg hinauf. Ich laufe vor und zurück, die Nase im würzigen Wind. Niemand ruft mich, niemand pfeift. Hitze, gerölliger Boden und die Schönheit der Landschaft lenken die Menschen von Hunde-Angelegenheiten ab. Wenig später ist es für sie sogar mit dem Privileg der Zweibeinigkeit vorbei. Mein Frauchen nimmt die Arme zur Hilfe, kriecht über Felsblöcke, zwischen denen in feuchteren Jahreszeiten das Wasser gurgelt, greift nach den Stämmen kleiner Nadelbäume und bekommt kaum eine Hand frei, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Wir Hunde klettern und springen, als hätten wir Saugnäpfe unter den Pfoten. Manch einer nutzt die Gelegenheit, seinem krabbelnden Besitzer herzhaft das Gesicht zu lecken. Andere üben sich im Extremsport der Bergziegenjagd. Selbst Dr. Lisa nimmt auf ihren kurzen Beinen tapfer Stein um Stein. "Manchmal fragt man sich", meint sie mit Seitenblick auf einen stolpernden Homo sapiens, "wer oder was die zum Chef gemacht hat."

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Es war die Fähigkeit, belegte Brote und Trinkflaschen mit sich zu führen. Ein Teil des Wassers, das in eindrucksvollem Grün am Grund der Schlucht leuchtet, hätte ruhig hier oben auf dem Hochplateau bleiben können. Die Sonne steht senkrecht. Ein Hecheln aus 21 trockenen Kehlen bildet den Soundtrack zur Wanderung. Dafür ist die Aussicht phänomenal: Zum ersten Mal im Leben kann ich einem kreisenden Raubvogel auf den Rücken sehen. Am Horizont liegen grün gefleckte Berge wie schlafende Drachen im Lichtnebel. So weit das Auge reicht, keine Spuren von menschlichem Wirken und Werken. Die Steine, die sich hier überall zu grotesken Gebilden stapeln, wurden von prähistorischen Ozeanen aufeinander getürmt.

Neben mir schaut mein Frauchen ins Tal und breitet die Arme so weit aus, als wollte sie einen Berg umarmen. Ohne den ewigen militärgrünen Rock und die bunten Socken würde ich sie kaum wiedererkennen. Die Frau, mit der ich seit vier Jahren Bettvorleger und Schüssel teile, redet nicht gern mit fremden Artgenossen. Auf unseren Spaziergängen im Stadtpark hält sie den Kopf gesenkt und betrachtet den Boden vor ihren Füßen, als ob sie etwas suchen würde, das sie vor langer Zeit verloren hat. Scheint so, als hätte sie es hier gefunden. Sie geht aufrecht, solange sie nicht krabbeln muss, lässt die Blicke schweifen und quasselt ohne Pause mit den anderen Reiseteilnehmern. Ich kann mir denken, woran das liegt. Seit fünf Stunden sind wir im Freien unterwegs, ohne von schlecht gelaunten Passanten beschimpft zu werden. Keine Kellnerin musste becirct, kein Taxifahrer angebettelt und keine panische Mutter beruhigt werden, um die Anwesenheit einer gelben Hündin auf Gottes Erdboden zu legitimieren. Es gibt jemanden, der die Existenz von Mensch und Hund nicht in Frage stellt: die Natur. Eine entspannt herabhängende Hand krault meine Ohren. "Siehst du, Olga", sagt mein Frauchen, mit der anderen auf den Horizont deutend, "so sieht es aus, wenn die Käfigstäbe mal ein bisschen weiter stehen."

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Wir durchqueren die Hochebene mit Kurs auf Onin. Überall liegen die Trümmer verlassener Dörfer und erinnern daran, dass man sich auch vom Anblick der schönsten Landschaft nicht ernähren kann. Der Ort, in dem wir etwas trinken wollten, erweist sich als Ruinenfeld. Die Abzweigung zum Campingplatz hat die letzte Schneeschmelze davongetragen. Die nächste wird von einer Herde Kühe versperrt. Und die dritte führt nicht in die geplante Richtung.

Jetzt verteilen die Menschen gute Ratschläge statt Sonnencreme. Terrier Erik sucht Streit. Dr. Lisa hat das Philosophieren eingestellt. Die kleine Känga muss wegen ihrer wunden Pfoten getragen werden. Ringsum beginnen die Felswände das Licht einzusaugen. Die Dämmerung bringt Schweigen mit sich, monumental wie ein stummes Echo aus jenen Zeiten, als das erste Erdenwesen noch nicht geboren war. Ab und zu hallt ein lautes Scheppern von den benachbarten Hängen herüber, wenn Geröllscherben unter den Hufen einer Bergziege ins Tal stürzen. Zugegebenermaßen gibt es Momente, in denen man für ein Anzeichen menschlichen Wirkens und Werkens ganz dankbar wäre.

Wir schleichen mit gesenkten Köpfen voran, bis eine köstliche Witterung die Nasenflügel vibrieren lässt. Ich habe noch nicht verstanden, worum es sich handelt, da tragen mich meine Beine schon in rasendem Galopp um die Kurve. Das ganze Rudel ist nicht mehr zu halten, als große Staubwolke rutschen wir das letzte Stück des Abhangs hinunter. Kurz darauf sind wir ein einziges Plantschen, Spritzen und Schlabbern. Kühlschrankkaltes, frisches Wasser. Ziemlich viel sogar. Kaum haben wir uns satt getrunken, stehen die Menschen schon bis zur Brust im Fluss. Sie tragen ihre Schuhe und Fotoapparate über den Köpfen, rufen, deuten alle in eine Richtung und waten auf eine Felsnase zu. Erbärmliches Geheul zerreißt die Abendstille: Ein paar vierbeinige Nichtschwimmer haben es mit Nachlaufen versucht und kleben hilflos an den senkrechten Wänden des Canyons.

"Weitergehen!", befiehlt Michael. "Nicht umschauen!" Tatsächlich lässt sich ein Nachzügler nach dem anderen ins Wasser fallen, taucht prustend wieder auf und setzt den vierbeinigen Tretbootmotor in Gang. Ich sitze schon am anderen Ufer und sehe nachdenklich zu, wie die erschöpfte Dr. Lisa am Schlawittchen die letzten Meter durchs Wasser gezogen wird. Beim Entenjagen im Park habe ich eigentlich nie an Überlebenstraining gedacht.

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Mein pitschnasses Frauchen kämpft sich aus dem Fluss und sinkt neben mir auf die warmen Steine. Ein kräftiges Schütteln verpasst ihr gleich noch eine Dusche. Zur Strafe zieht sie mich an den Ohren. "He, Olga", sagt sie. "Ich bin nass, halb verhungert und todmüde. Weißt du, was ich denke?" Ich weiß es: Man müsste Freiheit in Flaschen füllen und mit nach Hause nehmen können. Wir schauen uns in die Augen. Wenn ich lächeln könnte, würde ich es jetzt tun.

Im Dunkeln wirken die Holzbungalows des Campingplatzes wie zu groß geratene Hundehütten. Vor jeder Tür schlafen vierbeinige Schatten, denen die paar Schritte zum Restaurant als unüberwindbare Etappe erschienen sind. Die Menschen sitzen vollzählig an einem langen Tisch und verteidigen Papiertischtuch und Servietten gegen den kalten Wind. Laut Michaels Speisekarten-Übersetzung gibt es "Kuh, Huhn, Schaf oder Fisch". Ab und zu fällt ein Pommes frites vom Tisch und landet wie zufällig vor meiner Nase. Nett gemeint, aber ich bin zu faul, um die Schnauze zu öffnen. Dr. Lisa bekommt in Abwesenheit den Duracell-Orden verliehen. "Für eisernes Durchhalten auf Stummelbeinen!", höre ich mein Frauchen rufen.

Im Halbschlaf lausche ich der Planung für die nächsten Tage. Ich sehe die Menschen vor mir, wie sie in den Sätteln von Westernpferden durch die karge Sierra schaukeln. Ich sehe sie als Froschmänner verkleidet durch enge Höhlen tauchen, von haushohen Felsen springen oder einfach im grünen Wasser auf dem Rücken treiben. Ich sehe endlose Wanderwege, wunde Füße und blauen Himmel, vor dem die Geier kreisen. So muss das Paradies aussehen: eine Hundepension, in die man seinen Menschen mitnehmen kann.

Reise-Infos Wandern mit Hund

Die beschriebene Reise wurde von Canis angeboten, einem Zentrum für Kynologie (Wissenschaft vom Hund), das in Seminaren und Workshops Informationen rund um den Hund vermittelt. Die erste Wanderung mit Hunden organisierte 1996 Erik Zimen, Verhaltensforscher und Mitarbeiter von Konrad Lorenz sowie Mitbegründer von Canis. Sein Wunsch war, Menschen und Hunden - wenigstens im Urlaub - eine natürliche Form des Zusammenseins zu ermöglichen. www.canis-kynos.de

Weitere Anbieter:www.hundewandern.dewww.hundeschule-roesler.dehttp://hund-und-reisen.dewww.flughund.de

Tipps für individuelle Touren unter: www.hiking-dog.de www.hundebergtouren.ch

Buchtipp: "Kleines Konversationslexikon für Haushunde" von Juli Zeh und David Finck - ein Hund erklärt die Welt aus seiner Sicht (Schöffling & Co., 19,90 Euro).

Text: Juli Zeh Fotos: Monika Höfler BRIGITTE Heft 11/2006

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