Sonntag
Das Gepäck ist unter Deck verstaut, die Kinder sind mit Himbeereis gebändigt, die "Vaxö" legt mit Glockengeläut vom Fähranleger in Årsta ab, etwa 30 Kilometer südlich von Stockholm.
Nach einer Stunde stehen wir auf dem Fähranleger Näsudden, hundert steile Schritte von unserem Ferienhaus entfernt. Es liegt oben am Hang, ist aus Holz gebaut und wurde einst, so stellen wir uns das vor, von einem Kapitän mit seiner rebellischen Tochter bewohnt. Zentrum des Hauses ist ein Panoramafenster mit Blick auf die Bucht von Kyrkviken.
Für Erregung sorgt die Toilette - eine schwedische "mulltoa", die ökologisch funktioniert, mit Torf statt Wasser, und deren Ablauf in lichtlosen Tiefen unter dem Haus verschwindet. Dorthin, wo die Blutvampire hausen, sage ich zu Viktor, drei Jahre alt. Am Kiosk von Spränga versorgen wir uns mit acht Portionen Würstchen und Kartoffelmus. Dann gehen wir baden. Mit vollem Bauch. Direkt vor dem Haus.
Beinahe 30 000 Inseln, Holme und Buckel liegen vor Stockholms Küste. Auf einer von ihnen sind jetzt wir. Auf unserem eigenen Bootssteg. Und als die Mittsommersonne um zehn erste Anstalten macht unterzugehen, sind wir immer noch da.
Montag
Die Schären sind das beliebteste Reiseziel der Stockholmer. Und Utö ist mit siebeneinhalb Quadratkilometern eine der größten Inseln des Archipels.
Neben dem Hauptort Gruvbryggan gibt es im Westen noch einen größeren Ort, Edesnäs, doch wer den einmal hinter sich gelassen hat, begegnet so schnell niemandem mehr. Der Weg führt über Steinbuckel, Kiefernwurzeln und Moosbetten, schließlich durch ein düsteres Tannenwäldchen, doch plötzlich liegen kahle, runde Felsen aus Granit und Gneis glänzend in der Sonne vor uns, Sandbuchten unter blauem Himmel. Wir baden zwischen zwei flachen, langgestreckten Holmen, die ein kleines Hafenbecken bilden. Das Wasser ist so durchsichtig wie Glas, auf dem Grund leuchten weiße Steine, die das Meer zu Kugeln geschliffen hat. Und die ich am Abend für meine Söhne in unser Haus schleppen muss, wo sie dann tagelang als Stolperfallen herumrollen.
Dienstag
Radio Stockholm vermeldet 29 Grad. Am Hafen von Gruvbryggan weht eine morgendliche Brise, was das Warten auf das kleine rote Sparkassenboot erleichtert. Es kommt nur einmal die Woche nach Utö, die einzige Möglichkeit für die 230 ständigen Einwohner und die Touristen, sich Bargeld zu verschaffen.
Die Bibliothek macht einmal pro Monat im Hafen fest, und wenn "Plomben III" anlegt, kann ganz Utö eine Woche lang zum Zahnarzt gehen. Bei Beerdigungen und zu Gottesdiensten kommt der Pastor vom Festland, bei Notfällen der Hubschrauber.
Wir haben uns einen Holzkahn gemietet und rudern ein Stück die Küste entlang, auf einige unbewohnte Holme und Schären zu. Zwischendurch baden wir vom Boot aus. Rast machen wir auf einem Steinbuckel, der von Seeschwalben geweißt ist, was mich schlagartig in die Kindheit zurückversetzt, in die Fernseh-Idylle von Saltkrokan.
Die Kinder angeln mit Keksresten, weil wir Köderwürmer nicht auf Haken spießen mögen. Dass Barsch und Hecht nicht auf Kekse gehen, behalten meine Frau und ich für uns.
Mittwoch
Mit Jannes Mofas fahren wir zu einem brachliegenden Militärgelände, einer wildromantischen Landschaft mit Birkenhainen und durchlöcherten Hausattrappen. Zwar ist das Militär nach wie vor der größte Arbeitgeber der Insel, doch Schießübungen werden heute an dieser Stelle nicht mehr veranstaltet.
Bei Drumbudds Sand verspeisen wir kleine, intensiv schmeckende Walderdbeeren, die Leo gesammelt hat, und tauchen dann nach russischen Spionage-U-Booten, die hier angeblich immer wieder mal vorbeikommen.
Donnerstag
Unser Tagesplan wird wie üblich einstimmig verabschiedet: Meer, Baden, Rumliegen. Am Strand wird aus Tang und Stöcken ein Godzillaweibchen gebaut, das schwer zu kämpfen hat gegen den sonnengebleichten, sandpolierten Kiefernstamm, der einen Tyrannosaurus darstellt. Und so verrinnt ein anderer Sommertag behäbig auf seinen Höhepunkt hin: Lagerfeuer am Meeresufer. Die Grillwürstchen schaukeln auf dünnen Birkenzweigen über der Glut. Ab und zu stürzt eines brutzelnd hinein.
Freitag
Das Wetter ist tatsächlich umgeschlagen. Unser Strandausflug führt uns deshalb auf die windabgewandte Seite einer Landzunge bei Rävstavik. Man kann hier am Kieselstrand liegen und den Sturm durch die Kiefernwipfel rauschen hören. Heute baden wir mal nicht, sage ich zu meinen Kindern, denn das warme Oberflächenwasser wurde über Nacht aufs Meer hinausgeblasen. "Doch", rufen sie, "du bist ein fauler Mann!" Wir radeln zum Sprungturm in unserer Bucht. Leo stürzt sich wie aufgezogen immer wieder vom Brett hinab, wir anderen machen es uns zwischen Strandhaferstauden bequem und lassen uns Sand in die Ohren wehen.
Samstag
Über Nacht ist der Wind abgeflaut, die blanke Ostsee dehnt sich wie ein Tuch. Bei den Bootsstegen riecht es nach Tau, Fisch und Firnis, und die Nacktbader aus Stockholm sind wieder da. Auf dem Weg zur kleinen Badebucht in Södra Sandvik, die zu weit entfernt ist für Tagesausflügler, sammeln wir Kirschen und Blaubeeren. Vom nächtlichen Regen sind nur kleine Pfützen in den Felsspalten geblieben.
Sonntag
Jedes Stück, das beim Packen in den Koffern verschwindet, stürzt uns in immer tiefere Depressionen; jeder letzte Sprung vom Bootssteg macht uns melancholischer. Und beim Warten auf dem Fähranleger zettele ich einen Familienstreit wegen einer Sammlung weißer Steine an. "Schleppt sie doch selber mit nach Hause!", brülle ich.
Als wir auf der "Vaxö" die Rückfahrt-Tickets aus der Reisetasche pulen, fällt uns mein zerlesener Reiseführer entgegen. "Utö Kyrkan, 1850 gebaut, älteste Steinkirche ...", lese ich. Schnell stopfe ich ihn wieder zurück. Man muss Sehenswürdigkeiten nicht besichtigt haben. Manchmal reicht es völlig, vor dem Urlaub über sie zu lesen. Und sich dann, mit Genuss, dem Nichtstun hinzugeben.