Brügge: Schönes Dornröschen

Auf meiner Reise durch Flandern hatte ich mich so gut vorbereitet! Mit melancholischen Chansons, in denen Jacques Brel von verregneten Horizonten des flachen Landes singt. Mit der berühmten Novelle "Bruges-la-morte" (Das tote Brügge), in der Georges Rodenbach der Stadt Brügge schaurige Schwermut andichtet. Schließlich auch mit gastronomischen Gerüchten, wonach die Belgier vor allem Pommes frites zum Fressen gern haben. So fuhr ich los.
Bis Brüssel sah ich Flandern nur flach und ziemlich x-beliebig. Dann wurde die Landschaft zunehmend üppiger, wie ein gut gedeckter Tisch.
Brügge - die Stadt leuchtet geradezu. Von Schwermut, gar schauriger, keine Spur. Wer in Brügge mal nach Herzenslust melancholisch sein will, der wird es höchstens angesichts der hohen Preise, die in den Restaurants auf den Speisekarten stehen.
Das Stadtbild hat sich seit dem späten Mittelalter kaum verändert. Brügge ist ein Dornröschen, das vor mehreren Jahrhunderten in den Schlaf gefallen ist. Und obwohl es jeden Morgen von den Touristen wachgeküsst wird, träumt es, gleichsam mit offenen Augen, weiter von zierlichen Stufengiebeln, Türmchen und Winkelgässchen.
Eine kleine, überschaubare Stadt. Knapp 120 000 Einwohner. Kein einziges Hochhaus. 1992 wollte ein amerikanischer Hotelkonzern im Stadtkern ein 20stöckiges Betten-Babel hochziehen. Die US-Manager powerten, doch die Brügger winkten ab. Keine Donuts für Dornröschen! Jedes Gebäude, das nicht älter als 200 Jahre ist, gilt hier als Neubau.
Auf geht's. Vorbei an einer langgestreckten gotischen Fassade. Das Rathaus. Als es gebaut wurde, im 14. Jahrhundert, war Brügge eine der reichsten und am dichtesten bevölkerten Städte des Kontinents. In den Lagerhäusern am Binnenhafen stapelten sich kostbare Stoffballen und Säcke mit teuren Gewürzen. Berühmte Künstler kamen und blieben; und eine polyglotte Bande von Bankiers fuhr in vergoldeten Kutschen von Profit zu Profit.
Brotzeit in der Liebfrauenkirche
"Brügge ist ein goldenes Geschmeide, darin die Liebfrauenkirche als kostbarster Edelstein strahlt", schrieb der große Maler Hans Memling, der im 15. Jahrhundert als Zugereister am Rozenhoedkaai lebte und arbeitete. Ich kann dem Meister nicht widersprechen. Im Kölner Dom oder in der Pariser Notre-Dame hat man immer ein schlechtes Gewissen, weil man nicht auf Zehenspitzen geht. In der Brügger Liebfrauenkirche aber fühlt sich jeder sogleich wie ein gerngesehener Gast. Keiner stört sich beispielsweise an dem älteren Mann, der in der ersten Reihe vor dem Altar sitzt und andächtig Brotzeit macht. Auf dem blau-weiß-karierten Tuch, das er neben sich ausgebreitet hat, liegen Wurst, Käse und eine halbe Baguette, und aus einer Thermosflasche dampft es verheißungsvoll.
Vor der hüfthohen Absperrung einer Seitenkapelle drängt sich eine japanische Reisegruppe und bestaunt eine Skulptur, die etwa 15 Meter von den gezückten Fotoapparaten entfernt hinter einer kugelsicheren Glasscheibe steht. An der Decke sind mehrere Überwachungskameras installiert. Es heißt, der amerikanische Pop-art-Master Andy Warhol sei kurz vor seinem Tod nur aus einem einzigen Grund nach Europa gejettet - er wollte in der Brügger Liebfrauenkirche dieses eine Kunstwerk aus weißem Marmor sehen: "Madonna mit Kind" (1503-1504) von Michelangelo Buonarroti.
Die Museen sind selbst museumsreif
Rund um die Liebfrauenkirche liegen die wichtigsten Museen der Stadt. Keine modernen Vitrinenbauten; die Schatzkammern von Brügge sind selber museumsreif. Etliche Meisterwerke von Hans Memling hängen in einem ehemaligen Krankensaal des im 12. Jahrhundert erbauten Sankt-Janshospitals. Im benachbarten Groeningemuseum, das weltberühmte Gemälde von Hieronymus Bosch, Jan van Eyck, Pieter Bruegel d. J. ("Höllenbruegel") und Rogier van der Weyden besitzt, lebten einst Nonnen in klösterlicher Ruhe.Im Brangwyn-Museum will ich mir nur rasch eine hochgelobte Kollektion von Spitzen anschauen - und lande unversehens in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Damals war das einst so glanzvolle Handelszentrum völlig verarmt, die Hälfte der Bevölkerung lebte von Almosen. In jener Zeit klöppelten hier mehr als 10 000 Frauen Spitze. Für einen Hungerlohn.
Dann aber geschah ein belletristisches Wunder, das in der Weltgeschichte wohl einmalig ist. Ein Buch, noch nicht einmal 100 Seiten stark, brachte der Stadt den Reichtum zurück: Kurz nachdem die bereits erwähnte Novelle "Bruges-la-morte" von Georges Rodenbach anno 1892 erschienen war, setzte ein regelrechter Reise-Run auf die vermeintlich "tote" Stadt ein. Da lebte Brügge wieder auf. Und wie! Mittlerweile haben sich 95 Hotels und über 200 Restaurants auf den Fremdenverkehr eingerichtet. Geklöppelt wird auch heute noch, hauptsächlich für die Touristen. In den Spitzen-Kursen, die jeden Sommer angeboten werden, treffen sich Klöppelfans aus aller Welt.
Gent: Eine Stadt zwischen Prunk und Pommes

Ein Ausflug nach Gent, etwa eine Autostunde von Brügge entfernt. Hier gibt es tatsächlich Frittenbuden. Auch der Schwermut könnte ich hier anheimfallen. Gent funkelt nicht. Brügge lebt seine Vergangenheit, Gent aber kokettiert nur mit ihr. All die uralten Häuser, Handelskontore, Kirchen, Paläste, Kanäle, Brücken und Museen wirken wie Dauerleihgaben der Tourismusindustrie. Eine Stadt zwischen Prunk und Pommes. So scheint es mir.
So genannte "Sehenswürdigkeiten" (ein liebloser Begriff, der mir in Brügge nie in den Sinn käme) hat Gent auch zu bieten. So wird an der Graslei und am Koremarkt angeblich emsiger fotografiert als an jedem anderen Ort im Königreich Belgien. Die beiden Altstadtstraßen, die am Ufer der Leie entlangführen, sind ein Freilichtmuseum historischer Baustile: Restaurierte Fassaden alter Gilde- und Speicherhäuser erzählen mit der Strenge der Brabanter Gotik und mit der bürgerlichen Pracht der Genter Renaissance vom Handel und Wandel vergangener Epochen. Gegen Mittag gehe ich in die dreischiffige Kathedrale Sint Baafs, auch St. Bavo genannt.
Der "Genter Altar" - zum Niederknien schön
Eine halbe Stunde, mehr Zeit will ich hier nicht verbringen. Aber ich bleibe bis zum späten Abend. Es ist der "Genter Altar", der mich nicht loslässt. Auf den zwölf Bildtafeln des anno 1432 vollendeten Meisterwerks schufen die Brüder Hubert und Jan van Eyck einen wahrhaft "bildschönen" Kanon mittelalterlicher Frömmigkeit. Die flämischen Meister erzählen und deuten weniger mit ihren Figuren als mit den Farben. So entdecke ich, dass ein ganz bestimmtes Rot der Paradiesszene auch auf dem Gewand der Mutter Gottes leuchtet. Zum Niederknien schön.
Reise-Infos Gent
Übernachten:
"Pakhuis", der Geheimtipp für Austernliebhaber. Wöchentlich wechselnde Menüs (Schuurkenstraat 4, Gent, Tel. 2 23 55 55, www.pakhuis.be, Mo-Fr 12-14.30, 19-24 Uhr; Sa 19-24, So 18-23 Uhr).
"Erasmus Hotel" - schöner Renaissancebau (16. Jh.) mit stilvollen Doppelzimmern; vier Zimmer zum liebevoll restaurierten Garten hin gelegen (DZ/F ab 9 Euro, Poel 25, Gent, Tel. 2 24 21 95/2 25 75 91, www.erasmushotel.be).
"Gravensteen": Gegenüber dem "Haus der gekrönten Häupter" ein Empire-Hotel mit 27 Zimmern (DZ/F ab 75 Euro, Jan Breydelstraat 35, 9000 Gent, Tel. 2 25 11 50, www.gravensteen.be ).
"IBIS Centrum Kathedraal": Ideale Lage im historischen Stadtkern gegenüber der St. Baafskathedraal; 120 Zimmer (DZ ab 75 Euro, Limburgstraat 2, 9000 Gent, Tel. 2 33 00 00, www.ibishotel.com).
Genießen:
Im "Macondo" wird "Taushe", ein afrikanischer Eintopf mit Tomaten, Erdnüssen und "saka-saka", Maniokblättern mit Chinakohl und Koriander serviert (Steendam 66, Gent, Tel. 2 25 31 95, außer Di 17.30-22.30 Uhr).
Für belgische Pralinen - weltberühmt - mit Walnuss, Orangen-Buttercreme und Mandelnougat, auch für Diabetiker, ist "Daskalides" d i e Adresse in Gent (Skaldenstraat 11, www.daskalides.be, tgl. 9.30-18 Uhr).
Reise-Infos Brügge
Übernachten:
"Hotel Egmond": kleines, neogotisches Hotel mit nur acht Zimmern am idyllischen Minnewaterpark (DZ/F ab 89 Euro, Minnewater 15, Brügge, Tel. 34 14 45, www.egmond.be).
"Europ" liegt an einem der typischen Kanäle, 28 Zimmer (DZ ab 63 Euro, Augustijnenrei 18, Brügge, Tel. 33 79 75, www.hoteleurop.com).
"De Pauw": Kleines Familienhotel mit acht Doppelzimmern mit Blick auf die St. Gilliskerk, Grabkirche des berühmten Malers Hans Memling (gestorben 1494) (DZ/F ab 80 Euro, St. Gilliskerkhof 8, 8000 Brugge, Tel. 33 71 18/33 41 11, www.hoteldepauw.be).
Genießen:
"Den Gouden Harynck", kleines exquisites Restaurant. Spezialitäten: gewürfelte Jakobsmuscheln und geräucherter Hummer auf Feigenchutney. (Groeninge 25, 8000 Brügge, Tel. 33 76 37, www.goudenharynck.be; 12-14 und 19-22 Uhr, So/Mo geschlossen, unbedingt für abends reservieren!).
Wer sich mittwochs im "Hobbit" gegrillte Rippchen bestellt, wird live mit französischen Chansons, Bossa Nova und Zigeunerklängen unterhalten (Kemelstraat 8, Brügge, Tel. 33 55 20, www.hobbitgrill.be, Mo-Fr 18-1, Sa/So 12-1 Uhr).
Nach Großmutters flämischen Bierrezepten wird in "Den Dyver" u.a. die Rotbarschterrine mit Weißbier zubereitet (Dyver 5, Brügge, Tel. 33 60 69, www.dijver.be, außer Mi 12-14, 18-22.30 Uhr).
Buchtipps
Ausführlich: der DuMont Kunst-Reiseführer "Flandern"; zur Einstimmung: "Flandern" - ein literarisches Landschaftsbild Insel-Verlag.
Belgisches Verkehrsamt in Düsseldorf, Tel. 0211/864840, Touristeninfos in Englisch bietet das Tourismusbüro der Stadt Brügge, www.visit-bruges.com Vorwahl für Belgien: 0032 Vorwahl Gent 09 Vorwahl Brügge 050.