Einen Augenblick lang ist es still im Schulungsraum in der Heidelberger Hütte. Die Gesichter wirken nachdenklich, betroffen. Ein Teilnehmer bricht das Schweigen: "Dann machen wir heute eben einen Hüttentag", sagt er. Die Spannung löst sich. Vereinzeltes Lachen. Doch in der Hütte will ganz bestimmt niemand bleiben.
Draußen warten die Berge der Silvretta, drinnen liegen Skier, Felle und Steigeisen bereit. Eine Stunde lang sind wir mit dem Pistenbully von Ischgl aus zur Heidelberger Hütte gefahren, in die Schweiz, etwa zwei Kilometer hinter der österreichischen Grenze. Die Hütte liegt auf 2246 Meter, beim Blick aus dem Fenster sieht man nur Berge und Schnee. Um uns herum liegen die Gipfel des Piz Davo Sasse (2792), des Piz da Val Gronda (2812) und der Lareinfernerspitze (3009).
Neun Teilnehmer haben sich für den kombinierten Tiefschnee- und Skitouren-Kurs in der Heidelberger Hütte angemeldet. Wahrscheinlich geht es ihnen wie mir: Sie wollen weg von der planierten Piste, rein ins Gelände. Sie träumen von unberührten Tiefschnee-Hängen, die sie als erste runterfahren.
Dass dieser Traum nicht ganz ungefährlich ist, hat uns Bergführer Bernhard (47) gerade klar gemacht. Morgens, noch bevor wir zur ersten Tour aufbrechen, steht Lawinenkunde auf dem Programm. Verdrängen geht nicht. Er malt ein Strichmännchen an die Tafel. Ein Verschütteter. Um ihn herum malt er Kreise, elektromagnetische Wellen, die das Lawinensuchgerät aussendet. Die Suche nach dem Verschütteten muss schnell gehen: "Nach ein bis zwei Minuten im Schnee wird man meistens bewusstlos, nach fünf Minuten gibt es bleibende Schäden, nach fünfzehn Minuten ist man tot", erklärt der Bergführer. Wir schlucken. Und wir beeilen uns, als wir draußen nach dem Gerät suchen, das Bernhard in den Schnee geworfen hat. Zur Übung. Wir brauchen mehrere Minuten, bis wir den Piepser gefunden haben – und wissen, was bis dahin mit dem Verschütteten passiert wäre.
An diesem Tag wird Lawinenwarnstufe 3 gemeldet, das bedeutet erhebliche Lawinengefahr. Die höchste Warnstufe ist 5 (sehr große Lawinengefahr). Bei Stufe 3 können wir noch losziehen. Wir meiden steilere Hänge. Wo es nötig ist, halten wir Abstand zum Vordermann. Die Belastung auf dem Schnee ist dadurch geringer - und damit auch die Gefahr, ein Schneebrett loszutreten. Bernhard arbeitet seit über 25 Jahren als Bergführer. Er wird wissen, was er tut, beruhige ich mich. Jedes Jahr verbringt der Österreicher mehrere Wochen auf der Heidelberger Hütte und ist in den umliegenden Bergen unterwegs.
Fotoshow: Ab in den Tiefschnee!
Es ist kalt, acht Grad minus, ein eisiger Wind weht, die Sicht ist schlecht. Wir kleben Felle auf die Skier, damit wir beim Anstieg nicht abrutschen, und stapfen los. Bernhard vorne weg. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Ich muss mich konzentrieren, meinem Vordermann nicht auf die Ski zu treten. Ist das nicht ein bisschen langsam? Nach einer Weile habe ich mich an das Tempo gewöhnt. Der Wind pfeift, sonst ist nichts zu hören, außer dem Knirschen des Schnees und dem gleichmäßigen "klack", "klack" der Skischuhe, die auf die Steighilfe treffen. Meine Gedanken schweifen ab, ich fange an, vor mich hinzuträumen. Als ich nach unten blicke, sehe ich nur noch Schnee. Die weiße Hütte ist längst nicht mehr zu sehen. Warum ist eigentlich noch niemand auf die Idee gekommen, sie in knalligem Pink oder Türkis zu streichen?
Keine Ahnung, wie steil der Berg ist, wie weit wir schon oben sind. Es gibt nichts, woran sich das Auge festhalten kann. Nur ab und zu ein paar Grashalme oder ein Stück Fels. Der Wind weht den Pulverschnee über die Steine. Es sieht aus, als würden künstliche Nebelschwaden über einen Discoboden ziehen. Aber das hier ist echt.
Ich weiß nicht, wie lange wir so aufgestiegen sind. Zwei Stunden, vielleicht drei. Wir lassen die Ski stehen und gehen das letzte steile Stück zu Fuß weiter. Bernhard hat den Gipfel erreicht, den Piz Davo Sasso, östlich der Heidelberger Hütte. Geschafft. Den Kopf unter einer gelben Kapuze geschützt, die Augen hinter einer Gletscherbrille verborgen, steht er mit breiten Grinsen oben. Er sieht aus, als würde er für einen Outdoorjacken-Hersteller Modell stehen - die raue Natur kann ihm nichts anhaben. Er schüttelt jedem von uns die Hand, sagt "Berg Heil". Der Wind pfeift so laut, dass wir schreien müssen,. Bernhard passt auf, dass keiner von uns zu nah an die Kante tritt. Aus gutem Grund. Der Wind hat den Schnee über die Kante geblasen, eine Schneeverwehung ist entstanden. Ein falscher Schritt, und der vermeintlich feste Untergrund der „Wechte“ bricht unter den Füßen weg.
Am Abend, zurück in der Heidelberger Hütte, zeigt uns Bernhard ein Foto von einer Skitourengruppe, die ganz knapp an einer solchen Schneeverwehung entlang geht - vermutlich, ohne sich der Gefahr bewusst zu sein. "Eine Wechte kann bis zu 20, 30 Meter breit sein", erklärt er.
Zum Glück sitzen wir inzwischen wieder in dem kleinen Schulungsraum der Hütte, weit weg von Schneeverwehungen und Lawinen. Wobei die Hütte eigentlich ein Haus ist, ein ziemlich großes sogar, mit fast 160 Schlafplätzen. Trotz der imposanten Größe hat man bei rauem Wetter den Eindruck, die Hütte sei der Natur schutzlos ausgeliefert.. Kommt die Sonne raus, verlieren die Berge ihre bedrohliche Wirkung,. Das sind die Tage, an denen weiße Wölkchen nur langsam an den Gipfeln vorbei ziehen, so, als wollten sie sie umarmen.
An so einem Tag steigen wir auf den Piz da Val Gronda. Die Mittagspause verbringen wir im Windschatten einer kleinen Wechte. Wir sitzen auf unseren Rucksäcken und halten unsere Gesichter in die Sonne. Heute wird er wahr, der Traum von Pulverschnee und unberührten Hängen. Tiefschnee, zweifellos. Unterwegs treffen wir auf einen Wegweiser. Wir müssen ihn erst ausgraben, bevor wir die Aufschrift lesen können: "Heidelberger Hütte". Wir stehen am Hang. Ich denke an Bernhards Worte beim Tiefschnee-Training am ersten Tag: Den Oberkörper nach vorne beugen, so, als würde man ein Tablett tragen, das man immer gerade nach vorne hält. Die Beine sollen ebenfalls gebeugt sein, das Schienbein berührt die ganze Zeit die Skischuhe.
Wir stehen nebeneinander, jeder bekommt eine eigene Spur. Die ersten fahren ab, schwingen locker durch den Schnee. Ich höre ein Juchzen. Der Berg sieht steil aus. Egal, im Tiefschnee fällt man weich. Ein kurzer Ruck und ich fahre über die Kante. Es klappt. Kurzschwünge im Gelände, zum ersten Mal. Es ist gar nicht so schwierig. Ein irres Gefühl, irgendwo zwischen Schweben und Gleiten. Das ist es also, was die Tiefschnee-Freaks so fasziniert. Dann stehen wir am Fuß des Berges, mit einem entrückten Grinsen im Gesicht. Ich bin infiziert. Für mich steht fest, dass ich keinen Skiurlaub mehr auf der Piste verbringen werde.
Für solche Momente nehme ich alles in Kauf: die Hüttenruhe um 22 Uhr, den Schweißgeruch im Essraum, die knarzenden Dielen und das Schnarchen aus den Nachbarzimmern. Und mir können auch solche Tage nicht die Laune verderben, an denen wir nur wenige Meter weit sehen können und deshalb die Aufstiegsspur wieder zurückfahren müssen - im Stemmbogen.
Keine Sekunde vermisse ich das klassische Après Ski, bei dem die hundertste Wiederholung von "Schifoan" oder "Es lebe der Sport" aus den Lautsprecherboxen dröhnt. Die Hütten-Alternative heißt Enzianschnaps und Gitarre. "Dunkelgraue Lieder" von Ludwig Hirsch statt österreichischem Party-Pop. Irgendwie ist das echter. So echt wie die stinkenden Socken am Kamin. Dabei sind wir gar nicht weit weg von der "anderen" Skiwelt, der mit den Schneekanonen, den Geländewagen und den Skibrillen mit Strass. Mit dem Gampenlift rückt das Skigebiet Ischgl-Samnaun bis auf sechs Kilometer an die Heidelberger Hütte ran. Seit vielen Jahren liegen Pläne in der Schublade, einen weiteren Lift zum "Piz Val Gronda" zu bauen. Dann wäre die Heidelberger Hütte auf einmal mitten drin im Skizirkus. Ich hoffe, dass die Pläne noch lange in der Schublade bleiben.
Reise-Infos: Tiefschnee-Touren
Der Kurs: Kombikurs Tiefschnee-/Skitouren: Fünf Ski-Dreitausender und die Ski-Arena von Ischgl-Samnaun, 6 Nächte im Zwei- und Vierbettzimmer, Halbpension, 690 Euro (Buchungscode: KTHEI). Weitere Infos unter www.dav-summit-club.de.
Bergführer: Ein Bergführer ist ein staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, der seine Qualifikation durch Ausweis und Abzeichen nachweisen kann. Qualifizierte Bergführer findet man in Österreich unter www.bergfuehrer.at, in anderen Ländern über den Internationalen Bergführerverband unter www.uiagm.info
Buchtipp: Alpin-Lehrplan 4: Skibergsteigen - Variantenfahren, 188 Seiten, blv-Verlag, November 2006, 28 Euro