Anzeige
Anzeige

Tod der Gemütlichkeit: Warum ich dieses "Hygge" hasse

Tod der Gemütlichkeit: Warum ich dieses "Hygge" hasse
© Getty Images
Kerzen, Tee, Wolldecke, Kaminfeuer. Da wird einem ja wohlig warm – und zwar hinten im Rachen. Dieses Hygge, das alle feiern, das kann mich mal!
von Carl Armbruster

Freitagabend – da waren wir früher ja um 21.00 Uhr schon ganz benommen und hüpften von den vier Wegbier beschwipst auf'm Kiez herum. Auch im Januar. Jugend, Freiheit.. ach, entglitten in ein Land vor unserer Zeit! Jetzt ist das alles anders, man geht erstmal zu Freunden was trinken – und "vielleicht später dann noch in ne Bar oder so, wenn's nicht zu kalt ist". Dabei dauert die Anreise schon drei Gezeiten, weil die wohnen nun im "guten" Quartier. Wegen der Kita-Qualität und wohl weil da die Straßenlaternen heller leuchten. Egal. Immerhin bleiben die Bier im Winter schön kalt, denke ich und drücke die Klingel. Und rauchen kann man ja auch in der Küche.

Doch dann kommt's dick. Leere Rotweinflaschen im Treppenhaus! Aber nicht im Assi-Stil, sondern so à la französisches Weingut mit Kerzen drauf. An der Haustür hängt eines dieser Mini-Kissen: "Trautes Heim, Glück allein!" Es riecht nach Lavendel. Halb paralysiert, halb die Galle runter schluckend warte ich, bis sich die Tür öffnet. Dann stehen da die Freunde, in farbigen Ikea-Slippern, Rollkragen-Wollpullovern – ich wusste gar nicht, dass es solche tragbaren Heizungen gibt – und Decken über den Schultern als seien sie kanadische Trapper auf Rentierjagd. "Schön, dass du da bist. Wir haben's uns gerade hygge gemacht", sagen sie, mit einem Lächeln direkt aus "The Shining". Ja geil, denk ich. Ich mach's mir auch gleich hygge. Für immer. Mit der Schrotflinte im Mund.

Der dänische Virus

"Habt ihr die Brettspiele schon ausgepackt?" – Den finden meine Freunde nur halb lustig. Das Bier landet auf dem Küchentisch, nicht mal im Kühlschrank. Ob ich eine warme Tasse Tee möchte. Mir verrenkt's den Denkmuskel. Sind die jetzt bekloppt? Bin ich etwa 60 plus?! Als nächstes legen die wohl Chopin auf, drücken mir zur Entspannung ein Monet-Gemälde in die Hand und ein Xanax in den Schlund. Im Wohnzimmer ist es dann so stickig warm wie während einer Bahnfahrt im Hochsommer. Dieses Hygge, denke ich noch und schlürfe den Baldrian-Tee, ist psychologische Kriegsführung.

Kurzer, historischer Ausflug: "Hygge" ist ja eigentlich nichts Neues und auch garantiert keine Zauberei. Die Dänen (und später Norweger) machen's sich schon seit vorletztem Jahrhundert gerne "hyggelig" – was so viel wie eine gemütliche, wohltuende, sichere Atmosphäre umgeben von den ach so lieben Mitmenschen bedeutet. Besonders in den dunklen Wintermonaten verhalf das zu psychischer Gesundheit und gesellschaftlicher Unterhaltung – genau, heute gibt's dafür Smartphones. Allgemein hält man in nördlichen Ländern viel auf Heimeligkeit, das heisst überall Holz, stilvolle Möbel, Zimtschnecken in jeder Schublade. Wie bei Ikea halt.

Hygge, du mich auch!

Eigentlich ja alles schön und recht, liebe Skandinavier, ihr dürft das. Wir haben hier ja auch unsere Methoden der Gemütlichkeit, so wie masslos Glühwein trinken und Familienstreit an Weihnachten. Das Problem ist viel mehr, dass das Hygge-Konzept international seit spätestens 2016 gnadenlos ausgeschlachtet wird, nur weil da so ein mit Lachs gefüllter Marketing-Heini nach einem Business-Trip nach Kopenhagen wohl gemeint hat, das verkaufe sich. Gratulation, du Wurst, tut es ja auch! Nun leben wir in einer Welt der von Duftkerzen, Kissen und Wollsocken zugemüllten Innenräume. Auf den Couchtischen Deutschlands liegt gehaltvolle Belletristik wie "The Little Art of Hygge" und alles duftet vier Monate lang nach penetrabel zuckersüßem Gebäck.

Klar, von November bis Ende Februar dominiert Hundewetter. Natürlich darf und soll man sich's da gemütlich machen – aber diese in Watte gepackte, gekünstelte "Der-Kamin-ist-mein-Heiligtum"-Atmosphäre, all die unverschämt geschmacklosen Lifestyle-Bücher, die Wagenladungen an ungeniessbarem Teevariationen gegen Stress, Vitaminmangel, Gelbfieber – all das braucht es nicht, um gemütlich zu sein. Entspannt doch gutdeutsch am Küchentisch mit einem Mett-Brötchen. Kämpft euch durch die Kälte auf ein Bier in die Eckkneipe. Oder geht meinetwegen ins Kino und schaut Star Wars Episode 200. Aber schickt die Felle zurück an den Polarkreis und dieses Hygge zurück nach Dänemark.

Neu in Leben

VG-Wort Pixel