"Vor zwei Wochen bin ich noch fest davon ausgegangen, dass ich in einem Jahr Mutter werde, Elternzeit nehme und wir mit unserem Kind aufs Land ziehen." Die 37-jährige HR-Managerin Tina saß an einem verregneten Herbsttag im vergangenen Oktober auf dem weißen Sofa in meiner Praxis, schaute vor sich auf den Boden und schüttelte langsam den Kopf. "Und jetzt sieht es plötzlich so aus, als wäre der Familienzug für mich vielleicht komplett abgefahren." Sie begann zu weinen. "Wenn mir das mit 15 jemand gesagt hätte, dass ich mit Ende 30 wieder Single bin, hätte ich mich gefragt, was da alles schiefgegangen sein muss ..."
Ihr Lebensgefährte Leon hatte sich nach dreijähriger Beziehung wegen einer Arbeitskollegin von ihr getrennt. Tina konnte, wie sie mir sagte, seitdem nachts nicht mehr schlafen. Im Büro hatte sie sich krankschreiben lassen müssen. Unter ihren großen, braunen Augen lagen tiefe Schatten.
"Für eine Frau über 30 ist die Wahrscheinlichkeit größer, vom Blitz erschlagen zu werden, als noch einen Mann zu finden"
Frauen zwischen 30 und 40, die eine Trennung hinter sich haben, machen rund ein Drittel aller Kunden in meiner Berliner Liebeskummer-Praxis aus - sie sind die am häufigsten vertretene Gruppe. Den meisten von ihnen geht es ganz ähnlich wie Tina: Sie haben nicht "nur" Herzschmerz. Sondern außerdem große Angst. Angst davor, nun "keinen mehr abzubekommen" - während ihre Freundinnen heiraten, Familien gründen, Häuser bauen. "Für eine Frau über 30 ist die Wahrscheinlichkeit größer, vom Blitz erschlagen zu werden, als noch einen Mann zu finden", lautete ein böser Spruch, an den ich mich noch aus meiner Kindheit erinnere. Heute würden wir die 30 zwar mit einer 40 ersetzen. Was aber gleich geblieben ist, ist das Gefühl der Frauen, an ihrer Partnerlosigkeit "selbst schuld" zu sein. Entsprechend häufig werden sie von großen Selbstzweifeln geplagt.
All das zusammen macht den Liebeskummer der "Dreißigerinnen" - im Vergleich zu jüngeren oder älteren Frauen (und Männern) - oft besonders heikel. Je näher sie dem nächsten runden Geburtstag bereits sind, umso schlimmer wird es meiner Erfahrung nach. Nicht nur bei jenen, die wie Tina einen ausgeprägten Kinderwunsch haben. Und das in einer Zeit, in der man vermuten könnte, dass Emanzipation, Karrierechancen und Fortpflanzungsmedizin so weit fortgeschritten sind, dass keine Frau mehr an der biologischen Uhr zu verzweifeln braucht.
Wie weit sollen man die eigenen Ansprüche an einen Partner zurückstellen?
"Meine Mutter hat mir geraten", erzählte Tina, "jetzt nicht gleich alles hinzuwerfen. Sie meint, ich soll erst mal abwarten, ob Leon nicht doch zu mir zurückkommt. Und ihm dann noch eine Chance geben. Im einen Moment denke ich, sie hat vielleicht recht. Und dass ich zu anspruchsvoll bin, wenn ich erwarte, dass ein Mann auf Dauer treu ist. Aber dann macht mich sein Verhalten wieder so wütend. Ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt verzeihen und noch mal vertrauen könnte."
Auch solche Abwägungen kennen viele der betroffenen Frauen: Wie weit sollen sie die eigenen Ansprüche an einen Partner zugunsten ihres grundsätzlichen Wunsches nach Beziehung zurückstellen? Aus lauter Angst, niemanden mehr kennenzulernen, fällt ihnen das Loslassen oft besonders schwer. Viele lassen sich auf zermürbende On-off-Spielchen ein oder trauern der vergangenen Liebe jahrelang nach. "Bevor ich jetzt ewig suche und dann doch niemanden finde, arrangiere ich mich doch besser mit den Sperenzchen meines Ex-Freundes", sagte mir einmal eine 35-jährige Kundin. Die "Sperenzchen", muss man dazu sagen, bedeuteten in diesem Fall Untreue, Lügen und unvorhersehbare Wutausbrüche.
"Torschlusspanik" ist ein sehr altes Gefühl
"Ich verstehe dich gut", sagte ich zu Tina, "und deine Sorge lässt sich leider auch nicht von der Hand weisen. Niemand kann dir versprechen, dass du einen guten Vater für dein Kind kennenlernst, solange du noch schwanger werden kannst." Sie sah mich erstaunt an. Vermutlich hatte sie gehofft, dass ich ihr eher Mut zusprechen würde. "Aber das Problem ist, dass deine Angst ein ganz miserabler Berater ist. Denn egal, ob es darum geht, Leon irgendwann noch eine Chance zu geben, oder darum, einen anderen Mann kennenzulernen: Solange du Angst hast, kannst du keine freie Entscheidung fällen." Sie nickte. "Mein Vorschlag wäre deshalb", fuhr ich fort, "dass wir deinen Liebeskummer zunächst ein bisschen außen vor lassen und stattdessen versuchen, die Angst loszuwerden"
"Torschlusspanik" ist ein sehr altes Gefühl. Weit älter als der Name, der im deutschsprachigen Raum erst seit dem 19. Jahrhundert verwendet wird. Laut Wikipedia ist Torschlusspanik die "Befürchtung, bisher - insbesondere im Bereich der Partnerschaft - noch nicht verwirklichte Ziele vornehmlich aus Altersgründen möglicherweise nicht mehr zu erreichen und daher voreilig Entscheidungen zu treffen". Eine amerikanische Studie ergab 2016, dass rund ein Drittel der befragten Frauen schon vor der Hochzeit wusste, dass ihr Mann nicht der Richtige ist - aber aus Angst davor, keinen anderen mehr zu finden, trotzdem vor den Altar trat.
Gerade Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, haben es auf dem Partnerschaftsmarkt schwer
Ich weiß nicht genau, ob es mir nur aufgrund meiner Arbeit so vorkommt oder weil ich selbst 37 bin und mein Freundeskreis sich in einem ähnlichen Alter bewegt: Ich habe den Eindruck, dass die Torschlusspanik gerade eine traurige Renaissance erfährt. Vor dem statistischen Hintergrund, dass Beziehungen immer kürzer halten, wir uns häufiger trennen und immer mehr Frauen sehr gut ausgebildet, beruflich erfolgreich und wirtschaftlich unabhängig sind, macht das zumindest durchaus Sinn: Denn gerade Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, haben es auf dem Partnerschaftsmarkt schwer.
Während sie sich nämlich in der Regel jemanden an ihrer Seite wünschen, zu dem sie aufschauen können oder der sich zumindest auf Augenhöhe befindet, tendieren Männer eher zu Partnerinnen, die ihnen intellektuell und finanziell ein bisschen unterlegen sind. Gerade für die 30- bis 40-Jährigen, die nicht selten schon ziemlich weit oben auf der Karriereleiter angekommen sind, wird die Luft demnach dünn. Tina lag mit ihrer Befürchtung, dass es schwierig werden könnte, nach Leon kurzfristig wieder jemanden kennenzulernen, also nicht ganz falsch. Und Torschlusspanik ist damit vielleicht längst zu einem neuen, gesamtgesellschaftlichen Problem geworden und keinesfalls die "Schuld" einzelner Frauen.
Erst auf dem "Mutter-ohne-Partner-Stuhl" entspannte sie sich ganz augenscheinlich
"Deine Angst besteht ja vor allem darin", resümierte ich nach allem, was Tina mir erzählt hatte, "dass du keinen Partner für die Familiengründung findest. Es gibt also vier Optionen: Erstens, es wird doch noch einmal etwas mit Leon, und ihr werdet Eltern. Zweitens, du lernst jemand Neues kennen und gründest mit ihm eine Familie. Drittens, du wirst gar nicht Mutter. Viertens, du wirst Mutter, aber zunächst ohne Partner." Ich begann, vier Stühle im Raum zu verteilen. Jeder dieser Stühle stand für eine der vier Optionen. "Ich möchte, dass du nach und nach auf jedem Platz nimmst und mir sagst, wie du dich dort fühlst", sagte ich zu Tina.
Sie schaute etwas skeptisch, stand dann aber vom Sofa auf und ging zielstrebig auf den "Wieder-mit- Leon-Stuhl" zu. Sie setzte sich. "Das fühlt sich wackelig an, nicht mehr richtig irgendwie. Und traurig." Es folgte der "Neuer-Mann-Stuhl": "Unsicher ist es hier. Schwammig. Und ich bin unruhig." Als nächster kam der "Keine-Kinder- Stuhl". Tina sprang nach zwei Sekunden wieder auf. "Hier halte ich es nicht aus! Das würde ich bitter bereuen!" Erst auf dem "Mutter-ohne-Partner-Stuhl" entspannte sie sich ganz augenscheinlich. "Hier bin ich auf einmal ruhig. Obwohl ich natürlich auch spüre, dass dieser Stuhl ganz schön anstrengend ist. Aber er fühlt sich trotzdem am besten an."
"Okay", antwortete ich, "jetzt schau von dort aus mal bitte auf den 'Wieder- mit-Leon'- und den 'Neuer-Mann- Stuhl'. Wie wirken die jetzt auf dich?" Tina lächelte. "Das ist ja irre! Die sind plötzlich nicht mehr bedrohlich. Ich fühle mich viel sicherer, weil ich einen Plan B habe und abwarten kann, was kommt."
Zur Panik kann die Torschlusspanik immer erst dann werden, wenn Ängste überhandnehmen
In den Wochen nach unserem Gespräch begann Tina, sich das erste Mal in ihrem Leben mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, eventuell nicht auf dem ganz klassischen Weg Mutter zu werden. Sie sprach mit alleinerziehenden Freundinnen, nahm Kontakt zu einer Samenbank auf. "Meine Wunschvorstellung ist es zwar nicht", erklärte sie mir, "aber seit ich diese Option für mich ernsthaft in Erwägung ziehe, bin ich viel ruhiger geworden. Ich fühle mich nicht mehr so abhängig wie vorher. Irgendwie selbstbestimmt. Ich merke, dass ich theoretisch auch allein die Verantwortung für meinen Traum tragen kann."
Tinas "Problem" war relativ leicht gelöst. Leider geht es aber nicht allen Frauen so, dass primär ihr Kinderwunsch der Auslöser für die eigene Angst ist. "In meinem privaten Umfeld sind einfach alle liiert, und ich komme mir vor wie Ausschussware. Was ist denn nur so falsch an mir?", gestand mir eine Kundin ihre Selbstzweifel. "Eine feste Partnerschaft gehört nun mal zu meinem Lebensplan. Alles andere fühlt sich wie Scheitern an", sagte eine andere unter Tränen.
Fest steht: Zur Panik kann die Torschlusspanik immer erst dann werden, wenn persönliche (Versagens-) Ängste überhandnehmen. Wer sie überwinden will, muss sich diesen Ängsten also stellen: Woher stammt die eigene Idee von einem Lebensplan, und macht es eventuell Sinn, diesen noch mal zu hinterfragen? Sind wirklich nur die liebenswerten und gut aussehenden Frauen in Beziehungen, und ist der Rückschluss, dass mit mir etwas nicht stimmt, überhaupt richtig? Wäre ein Mann, der mich primär wegen meiner äußeren Attraktivität wählt, heute tatsächlich noch ein passender Partner für mich?
Mit Ende 30 Single zu sein ist nicht anders als mit 20, 50 oder 60 Jahren
Ist also alles nur eine Frage der inneren Einstellung? Jein. Denn das, was sich jenseits der Torschlusspanik natürlich nicht so leicht lösen lässt, ist die unerfüllte Sehnsucht nach Zweisamkeit. Was sage ich also den Kundinnen, die in meiner Praxis sitzen und mir berichten, dass sie nun zwar "keine Angst" vor dem Alleinsein mehr haben, aber sich dennoch so sehr jemanden wünschen, mit dem sie ihr Leben teilen können? Ich versuche, ihnen klarzumachen, dass es für sie zwei Handlungsmöglichkeiten gibt: Erstens, sich mit irgendjemandem zusammenzutun - denn das geht immer, wenn man in puncto Gefühle und Rahmenbedingungen großzügig ist.
Oder zweitens, sich darüber bewusst zu sein, dass sie mit dem Überwinden ihrer Ängste, mit Offenheit und indem sie sich auch ohne Partner erst mal ein schönes Leben bereiten, die besten Voraussetzungen dafür schaffen, eine neue Liebe zu erleben. Ob und wann diese kommt, dazu gehört Zufall und auch ein Quäntchen Glück. Denn die Liebe lässt sich nicht planen. Was einerseits schade ist, aber auch klarmacht: Mit Ende 30 Single zu sein ist nicht anders als mit 20, 50 oder 60 Jahren.