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Das Protokoll eines Zusammenbruchs

Manchmal reicht eine Kleinigkeit - und wir brechen zusammen. Das Protokoll einer wahren Geschichte.

Der Arzt sah aus wie einer von diesen italienischen Kellnern, die im Eiscafé bedienen: rosa Hemd, die oberen Knöpfe offen und darunter ein Goldkettchen, umgeben von südeuropäischem Haarwuchs. Er studierte mein Gesicht, dann meine Anmelde-Unterlagen. "Ehekrise", sagte er.

Danach stellte er Fragen und sagte: "Schlafstörungen, Grübeln, Suizidgefahr, Gewichtsabnahme, Erschöpfung. Sie haben eine schwere Depression entwickelt. Ich möchte Sie hierbehalten. Sie müssen damit rechnen, dass die Behandlung ein paar Wochen dauern wird. Und zwar mindestens drei." Hier: Damit meinte er die psychiatrische Klinik, in deren Ambulanz ich saß, weil ich einen "Nervenzusammenbruch" erlitten hatte - wie es so schön heißt, wenn es einen Promi trifft.

"Anpassungsstörung" heißt es in der Fachliteratur: Ich hatte mich in eine Situation manövriert, der ich nicht mehr gewachsen war. Ich, die immer von sich gedacht hatte, sie hätte alles im Griff. Ich, die glaubte, eine glückliche Ehe zu führen, einen guten Job zu machen, eine gute Mutter zu sein - ich hatte die Kontrolle verloren über mein Leben, meine Gefühle. Über mich.

Die Geschichte hatte fast ein Jahr zuvor begonnen. Ich kam von einer Geschäftsreise zurück. Unsere vierjährigen Zwillinge waren bei meinem Mann geblieben, der sich Urlaub genommen hatte. Ich freute mich, sie alle wiederzusehen.

Aber etwas war anders als sonst. Mein Mann. Er mied meinen Blick, lächelte nicht, nahm mich nicht in den Arm. Er hatte die andere im Büro kennen gelernt. Die Sache lief seit zwei Monaten. Ich rannte aufs Klo, wollte mich übergeben, aber ich würgte nur. "Willst du mich verlassen?", fragte ich. "Einerseits ja, andererseits nein", sagte er: Er hänge an seiner Familie, an seinem Zuhause. Aber er sei noch nicht so weit, diese Frau aufgeben zu können. Wenn ich ihn zwingen würde, sich zu entscheiden, würde er gehen. Man müsse abwarten, sagte er.

Ein Gehirn, das unter Schock steht, arbeitet anders als ein normales. Es fokussiert sich auf einen einzigen Gedanken, und den verfolgt es. Meist hat der Gedanke mit dem unmittelbaren Überleben zu tun. Mein Überlebensgedanke war: "Ich muss meine Familie behalten. Koste es, was es wolle."

Meine Strategie, sofern man mein Verhalten so nennen konnte: Durchhalten. Meine Hoffnung: Irgendwann wird es wieder so wie früher. Ich tobte nicht, machte keine Szenen. Ich versuchte zu ertragen, was ich nicht verhindern konnte: Den Schmerz, wenn er abends zu ihr ging, während ich zu Hause auf die Kinder aufpasste. Die hilflose Wut, die Eifersucht. Die Verzweiflung. Die öffentliche Demütigung, weil im Büro meines Mannes alle mitkriegten, dass zwischen ihm und ihr etwas lief.

Mein Mann war sehr aggressiv in dieser Zeit. Er fauchte mich an wegen Dingen, die ich getan oder nicht getan hatte. Oder einfach so, weil ich nun mal ich war - und nicht sie. Wenn ich mich wehrte, ging er. Er zog aus, zu einem Freund. Und wieder ein. Und wieder aus. Und wieder ein.

Er beendete unter Tränen die Beziehung zu seiner Geliebten und ließ mich spüren, wie unglücklich er über ihren Verlust war. Jedes Mal dauerte es nur ein paar Tage, und alles ging wieder von vorn los. Er ging mit mir zum Paartherapeuten - und erzählte ihm, wie sehr er die andere liebe.

Und ich? Ich ertrug und nahm das als Beweis für meine Stärke. Ich litt. Auch die Kinder litten. Sie weinten viel. Nach Monaten wurden wir in den Kindergarten zitiert, man sagte uns, wir müssten endlich eine Entscheidung treffen. Mein Mann entschied sich für uns. Wochen später rief eine Freundin von mir an, die die beiden aus einem Kino hatte kommen sehen.

Ich stellte ihn zur Rede: Er hatte die Beziehung nie beendet. In diesem Augenblick, die Sache lief schon fast ein halbes Jahr, hatte ich das erste Mal das Gefühl, keine Kraft mehr zu haben. Ich wusste plötzlich nicht mehr, woher ich die Energie nehmen sollte, die Kinder zu versorgen, arbeiten zu gehen, ja überhaupt nur morgens aufzustehen.

Die Firma, bei der ich arbeitete, geriet ausgerechnet in dieser Zeit in die Krise, man drohte mir mit Kündigung. Ich nahm meine Außenwelt kaum noch wahr, versank in Grübeleien. "Verdammt, wo ist deine Wut?!", schrie eine Freundin.

Ich wusste es nicht, ich hatte keine. Nur Selbstverachtung und das tiefe Gefühl, nichts wert zu sein, nicht mal fähig, den Kindern eine heile Familie zu bieten. Oder wenigstens einen gesicherten Lebensunterhalt.

Unsere Ehe war am Ende. Ich wehrte mich nicht mehr, als mein Mann das aussprach. Wir trennten uns. Einen Tag später telefonierten wir morgens, als die Kinder in der Kita waren, noch einmal. Wir redeten aneinander vorbei. Schließlich legten wir auf.

Ich war im Erdgeschoss unseres Hauses und wollte nach oben, um das Telefon auf die Ladestation zu legen. Als ich vor der Treppe stand, wusste ich nicht, wie ich da hinaufkommen soll. Ich hatte keine Kraft, die Treppe zu bewältigen, ich sah keinen Sinn mehr darin.

Und plötzlich konnte ich nur noch schreien. Ich schrie und schrie. Nicht, weil ich auf Hilfe hoffte, im Gegenteil: weil ich mich völlig hilflos fühlte. Ich schrie, wie man schreit, wenn man im Auto sitzt und merkt, dass man gleich irgendwo gegenrasen wird. Und mein einziger Gedanke war genau dieser: "Ich werde gegen einen Baum fahren."

Bisher hatten mich die Kinder davon abgehalten, an Selbstmord auch nur zu denken. Aber in diesem Moment war ich sicher, dass sie ohne mich besser dran wären - ohne eine Mutter, die ständig geistesabwesend war, kraftlos, ohne Lebensfreude. Das Telefon klingelte. Weil ich es noch in der Hand hielt, nahm ich ab. Meine Freundin. Zehn Minuten später war sie da und erklärte, sie werde mich jetzt in die Psychiatrie bringen.

Mir war alles egal. "Mein Mann muss die Kinder von der Kita abholen", sagte ich. Sie organisierte das. Und nun, an diesem 18. September 2006, einem golden-warmen Montag, saß ich also diesem Arzt gegenüber, der mir androhte, mich in seine Irrenanstalt zu stecken. "Schönen Dank", sagte ich, "ich gehe wieder." - "Okay", sagte er, "aber denken Sie noch mal drüber nach."

Ich stieg ins Auto. Kaum hatten wir das Gelände verlassen, fragte ich mich, was ich gewonnen hätte, wenn ich wieder nach Hause führe: Wäre irgendetwas anders, besser? Nein. Würde ich mehr Kraft haben? Nein. Würde ich wieder leben wollen? Nein. Ich rief meinen Mann an. "Sorg für dich", sagte er, "ich sorg für die Kinder." Wir kehrten um. Ich war in der Klapse gelandet. Meine beste Idee seit Langem.

Man gab mir Antidepressiva, Beruhigungsmittel und ein Medikament, das das quälende Grübeln unterdrücken sollte. Mein Arzt sagte, mein Gehirn sei wie ein Pferd, das ständig gezwungen würde, einen viel zu schwierigen Parcours zu springen. Es bräuchte dringend Ruhe. Schluss mit dem ewigen Was-habe-ichfalsch- gemacht.

Nach zwei Wochen wurde ich in die Depressions- Station verlegt: Leben in einer Wohngruppe mit anderen depressiven Patienten. Ein eigenes Zimmer, eine Küche, ein Esszimmer, ein Wohnraum - und immer jemand, mit dem ich reden, fernsehen oder Schach spielen konnte. Gruppentherapie, Einzel-, Sport-, Kunsttherapie. Ob ich hinging, blieb mir überlassen. Auch meine Medikamente musste ich mir selber holen, man trug sie mir nicht hinterher. Ich war zu nichts gezwungen, aber es gab einen Tagesablauf, der mir Halt vermittelte.

Bisher hatte der Befehl gelautet: "Denk an deine Familie! Los, aufstehen!" Plötzlich hieß es: "Denk an dich! Sorg für dich!" Ich fühlte mich entlastet, geschützt, geborgen.

Meine Psychotherapeutin machte mir klar, dass ich nicht nur aus Fehlern bestand, sondern Stärken besaß. In der Kunsttherapie entdeckte ich, dass ich malen kann. In der Gruppentherapie bedankten sich Mitpatientinnen für meine Beiträge. Beim Volleyball bedankte sich niemand für meine Hilfe, dafür lachten wir Tränen zusammen.

Mein Selbstwertgefühl kehrte allmählich zurück. Anfang Dezember - nach drei Monaten - wurde ich entlassen. Ich wollte wieder leben. Und ich hatte ein Ziel: so schnell wie möglich umziehen. In eine neue Umgebung, weg von den Erinnerungen, weg von den tratschenden Kleinstädtern. Acht Wochen lang recherchierte ich jeden Abend im Netz, schaute alle drei Tage ein Angebot an, verwarf, suchte neu, gab nicht auf - es war, als würde ich von unsichtbaren Stahlseilen vorangezogen. Seltsamerweise wusste ich intuitiv, was ich wollte, und dieses Wissen erzeugte Energie.

Irgendwann fand ich meine Wohnung. Groß, Traumlage, bezahlbar. Ich wunderte mich nicht darüber. Ich hatte das verdient. Die Umzugsvorbereitungen, für andere ein Albtraum, gerieten für mich zur Befreiung. Mit Leidenschaft entrümpelte ich den Hausrat von ehelichen Erinnerungen, warf weg, verschenkte. Sogar mein Hochzeitskleid.

Es blieb nicht viel übrig, aber das war mir recht. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal bei Ikea stand, um neue Sachen zu kaufen - und Glücksgefühle empfand: niemand da, der drängelte ("Bleib doch nicht dauernd stehen") oder nörgelte ("Was willst du denn damit?!"). Absichtlich meditierte ich stundenlang vor Wäscheregalen, dem Kerzensortiment - nur, um meine Freiheit auszukosten.

Die Kinder ließen sich von meinem Eifer anstecken: Sie liebten ihr neues Zimmer und fanden in der Kita viel schneller neue Freunde, als ich gedacht hätte. Meinen Job behielt ich. Alles lief plötzlich gut. Natürlich blieb diese Anfangseuphorie nicht ewig erhalten. Inzwischen ist der Alltag eingekehrt, die Glücksgefühle sind seltener geworden, und manchmal kommt der Schmerz zurück. Aber ich fühle mich lebendig, nicht mehr krank und kraftlos. Ich weiß, dass ich es schaffe. Weil ich schon so viel geschafft habe.

Protokoll: Andrea Peters BRIGITTE Heft 13/2008

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