Wir alle kennen Menschen, von denen wir denken: Die belügt sich doch wieder selbst! Und dann sind wir ganz fest davon überzeugt, dass WIR ständig zu 100 Prozent ehrlich sind – zumindest zu uns selbst. Dabei ist das totaler Quatsch. Wir alle belügen uns tagtäglich selbst. Und wir Menschen brauchen diese Selbsttäuschung. Denn wenn wir uns nicht selbst belügen würden, würde es uns sehr schwerfallen, schwierige Situationen zu meistern und uns überhaupt für den Alltag zu motivieren.
Diese kleinen "Notlügen" hängen stark mit unseren Überzeugungen zusammen, die wir brauchen, um unser Weltbild zu stabilisieren. Zwar tut es uns natürlich hin und wieder ganz gut, über den Tellerrand zu blicken und auch mal Dinge zu tun, sehen oder hören, die unser Weltbild sanft anstupsen und vielleicht sogar ins Wanken bringen. Würden wir das allerdings ständig tun, würden wir es kaum schaffen, unseren Alltag zu bewältigen. Mit den kleinen Akten der Selbsttäuschung schützen wir uns und sorgen so dafür, dass das Leben uns nicht überfordert.
Die beiden Psychologen Francesco Marchi von der Universität Antwerpen und Albert Newen von der Ruhr-Universität Bochum haben das Thema der Selbsttäuschung für das Fachjournal "Philosophical Psychology" genauer untersucht. Dabei haben sie vier Strategien analysiert, mit denen wir uns permanent selbst belügen. Bei allen geht es darum, dass wir bei unseren Überzeugungen bleiben – auch wenn es Fakten gibt, die diese eindeutig widerlegen.
Die 4 Strategien der Selbsttäuschung: So belügen wir uns selbst
1. Reorganisation der Überzeugungen
Ein einfaches Beispiel für die sogenannte Reorganisation der Überzeugungen: Eine Mutter ist fest davon überzeugt, dass ihre Tochter sehr gut in Mathe ist. Nun fallen die Noten der Tochter, sie hat mehrere schlechte Bewertungen hintereinander bekommen. Wenn die Mutter ehrlich wäre, würde sie zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass ihre Tochter doch kein Mathe-Genie ist. Stattdessen wird sie vermutlich das Problem woanders suchen: Entweder hat der Lehrer das Ganze nicht gut erklärt oder der Stoff war einfach zu schwierig für die Klasse. Die Mutter passt ihre Interpretation der Fakten so an, dass sie weiter zu ihrem Weltbild mit der mathematisch talentierten Tochter passen.
2. Auswählen von Tatsachen
Beim sogenannten Auswählen von Tatsachen geht es darum, dass wir Menschen uns in den meisten Situationen die Fakten herauspicken, die unsere Weltsicht stützen. Alles, was möglicherweise an der eigenen Überzeugung rütteln könnte, ignorieren wir direkt. Dieses Verhalten sieht man beispielsweise häufig bei Corona-Leugner:innen, die die wissenschaftlichen Fakten zur Pandemie ignorieren und sich nur einzelne Aussagen oder Zahlen heraussuchen, die ihre persönliche Überzeugung zu dem Thema unterstützen.
Aber natürlich nutzen diese Strategie nicht nur Verschwörungstheoretiker:innen, sondern alle Menschen. Die Mutter aus dem Beispiel würde also möglicherweise das Gespräch mit dem Lehrer meiden – denn sie geht ja ohnehin davon aus, dass er das Problem ist. So ignoriert sie bewusst einen Teil der (möglichen) Fakten zu einem Thema.
3. Zurückweisen von Tatsachen
Das sogenannte Zurückweisen von Tatsachen geht noch einen Schritt weiter: Hierbei ignorieren wir nicht nur unliebsame Fakten, die nicht in unser Weltbild passen – sondern diskreditieren sie sogar. Wir zweifeln die Quellen und deren Glaubwürdigkeit an. Um bei der Mutter und ihrer Tochter, dem vermeintlichen Mathe-Genie, zu bleiben: Hier würde die Mutter vielleicht gar nicht mehr nach den Noten der nächsten Klausuren fragen. Denn da sie ja ohnehin nichts auf die Bewertung des Lehrers gibt, lehnt sie diese als Quelle gänzlich ab.
4. Generieren von Tatsachen
Die vierte Strategie der Selbsttäuschung ist das sogenannte Generieren von Tatsachen. Die kommt in der Regel zum Tragen, wenn die anderen drei Strategien bereits versagt haben. Wir denken uns also praktisch gänzlich neue Fakten aus, wenn die bestehenden selbst nach dem Umdeuten nicht in unser Weltbild passen. Wir generieren dann neue Tatsachen, die unsere Überzeugungen stützen. Die Mutter könnte also beispielsweise die innere Überzeugung entwickeln, dass der Lehrer selbst eine völlig logische Erklärung für den aktuellen Leistungsabfall der Tochter gegeben hat – auch wenn er vielleicht etwas ganz anderes gesagt hat.
Die feine Grenze zwischen notwendiger Selbsttäuschung und (Selbst-)Sabotage
Bis zu einem gewissen Grad sind solche Manöver der Selbsttäuschung hilfreich und erleichtern uns das Leben. Wir haben dabei auch keine bösen und manipulativen Hintergedanken. "Es handelt sich dabei nicht um böswillige Vorgehensweisen", erklärt Psychologe Albert Newen. "Sondern einen Teil der kognitiven Grundausstattung des Menschen, um das bewährte Selbst- und Weltbild zu bewahren." Wir halten diese Überzeugungen so mithilfe der vier Strategien aufrecht, um unser Weltbild zu stabilisieren.
Problematisch wird das Ganze nur, wenn die Selbsttäuschung langfristig dazu führt, dass wir uns in bestimmten Überzeugungen festfahren, die uns und unserem Umfeld schaden können. Es gibt schließlich Fälle, da wäre eine Verhaltensänderung dringend notwendig – die gehen wir aber nicht an, weil wir die Augen vor den Tatsachen verschließen. Der Tochter aus unserem Schulbeispiel wäre schließlich auf lange Sicht mehr geholfen, wenn sie Nachhilfe in Mathe bekäme, um den versäumten Stoff aufzuholen, oder die Chance, sich in anderen Fächern zu etablieren. Beide Möglichkeiten enthält die Mutter ihr unbewusst vor, weil sie trotz gegenteiliger Beweise an dem falschen Glaubenssatz festhält, dass ihre Tochter gut in Mathe ist.
Verwendete Quellen: Philosophical Psychology, businessinsider.com