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Keine Angst vorm Alltag!

Die Steuererklärung, der Einkauf, der Anruf bei Mutter: Manchmal droht uns der Alltag zu verschlingen. Kathrin Passig, 38, Journalistin und Schriftstellerin, erklärt, wie man sich dem Druck endloser To-do-Listen entzieht – und wie Disziplinlosigkeit ihr Leben leichter, schöner und erfolgreicher gemacht hat.

Ich bin ein Mensch ohne einen Funken Selbstdisziplin. Ich könnte vermutlich morgens um sechs Uhr dreißig mein warmes Bett verlassen - wenn ich unbedingt müsste. Und wenn es nicht allzu oft vorkäme. Aber jeden Tag? Das schaffe ich nicht, und ich will es auch gar nicht. Mein Einkommen wird voraussichtlich nie für "mein Haus, mein Auto, meine Jacht" reichen, aber dafür werde ich, wenn ich alt bin, sagen können: "Ich musste nach dem Ende der Schulzeit nie wieder früh aufstehen." Andere Menschen dürfen gern andere Prioritäten haben - ausschlafen, das ist meine.

Ob das auch in Zukunft weiter so gut funktionieren wird wie bisher, weiß ich nicht. Die Frage bereitet mir aber auch keine schlaflosen Vormittage. Ich neige nicht zur Zukunftsangst, und das ist auch gut so, denn die kann man sich als Freiberufler sowieso nicht leisten. Aber vor allem weiß ich, dass es auch gar nicht anders geht. Ich muss mich mit meiner Disziplinlosigkeit arrangieren und kann nicht ständig mit guten, aber immer wieder scheiternden Vorsätzen gegen sie ankämpfen. Das würde mich viel zu viel Zeit und Energie kosten, die anderswo besser eingesetzt ist.

Denn Selbstdisziplin ist eine Kettensäge: Man kann mit ihr ganze Wälder fällen, sich aber auch problemlos selbst ein Bein absägen. Sie befähigt einen dazu, Dinge zu tun, die man für langweilig und sinnlos hält - weil sie langweilig und sinnlos sind. Deshalb bin ich im Nachhinein ganz froh, dass mich meine Disziplinlosigkeit immer wieder davon abgehalten hat, falsche Entscheidungen zu treffen.

Mit meinem Biologiestudium fing es an: Nach nur zwei Wochen wurde mir klar, dass Germanistikstudenten statt 42 nur zwölf Wochenstunden arbeiten mussten, und ich warf meine Pläne, einen seriösen Beruf zu ergreifen, noch am selben Tag über Bord. Auch im Germanistikstudium gelang es mir allerdings nicht, öde Seminare öfter als die ersten zwei Mal zu besuchen. Später ließ ich mehrmals gut bezahlte Aufträge sausen, als sich herausstellte, dass ich dabei vorwiegend beim Kunden herumsitzen und auf dessen Weisungen warten sollte. Wenn man dabei noch in der Nase hätte bohren dürfen, ja dann!

Ohne Disziplin zu leben hat nützliche Folgen

In den seltenen Fällen, in denen ich mich überwunden und durchgehalten habe, stellte sich allerdings hinterher heraus, dass jede andere Beschäftigung ein sinnvollerer Einsatz meiner Zeit gewesen wäre. Eben erst habe ich von meiner Steuerberaterin erfahren, dass ich durch das Sammeln von Bewirtungsbelegen und Taxiquittungen keinen Cent spare, sondern sogar noch draufzahle. Weil irgendeine bezahlte Kraft später schließlich alle Belege sortieren, abheften und in Exceltabellen eintragen muss.

Disziplinlosigkeit dagegen hatte für mich immer schöne und nützliche Folgen. Weil ich keine Lust auf Germanistikseminare hatte, las ich im Studium nur noch Krimis, was zu einem Job in einer Krimibuchhandlung führte, der mir ein paar Jahre großen Spaß machte. Außerdem trieb ich mich viel im Internet herum und lernte dort Dinge, von denen ich bis heute lebe, während mein Hochschulabschluss noch nie jemanden interessiert hat. Aus Gründen der Geselligkeit habe ich einen Arbeitsplatz in einem Gemeinschaftsbüro, das drei Schlafsofas enthält. Dort übe ich drei bis fünf unterschiedliche Berufe aus, was den Vorteil hat, dass ich mir an den meisten Tagen aussuchen kann, woran ich gerade arbeiten will.

Wobei "Arbeit" ein ziemlich weit gefasster Begriff ist; oft besteht sie einfach darin, dass ich ziellos das Internet durchlese. Dabei lernte ich zum Beispiel Sascha Lobo kennen, mit dem es mir voriges Jahr schließlich gelang, das Buch "Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin" zu schreiben. Es gibt mehrere Regalmeter Bücher über das Regeln von Dingen mit Hilfe von Selbstdisziplin und noch mehr Selbstdisziplin, aber so gut wie gar keine darüber, wie es auch ohne gehen könnte. Die Erklärung dafür ist einfach: Meister des Aufschiebens wie Sascha und ich haben normalerweise Wichtigeres zu tun, als Bücher darüber zu schreiben. Zum Beispiel Schlafen.

Bis zu diesem Zeitpunkt beruhten meine Kenntnisse auf Naturtalent und Faulheit, aber während der Arbeit am Buch konnte ich sie durch Recherche und Interviews mit anderen disziplintechnisch Herausgeforderten erweitern. Dazugelernt habe ich vor allem, dass es in der eigenen Verantwortung jedes Menschen liegt, sich gar nicht erst in Situationen zu bringen, die vorhersehbarerweise ins Debakel führen.

Ich bestelle nichts mehr bei Anbietern, die nur gegen Rechnung liefern. Wer weder Lastschriftverfahren noch Kreditkartenzahlung beherrscht, kommt mit mir nicht ins Geschäft. Beim Arztbesuch (ich bin Privatpatient) bitte ich darum, gleich nach der Behandlung meine EC-Karte durchs Terminal ziehen zu dürfen. Voilà, nie wieder "Dritte und letzte Mahnung". Ich benutze nur noch Einweggeschirr und -besteck (ja, es ist das umweltfreundliche, ich komme also nicht sofort in die Hölle), denn wenn der gute Vorsatz "Direkt nach dem Essen abspülen! Nicht erst drei Monate später!" bis zum 38. Lebensjahr nicht gewirkt hat, wird er es danach wohl auch nicht mehr tun.

Und weil ich einen Kühlschrank nur benutzen würde, um Lebensmittel unauffällig darin verschimmeln zu lassen, habe ich auch keinen Kühlschrank mehr. Ich bezahle eine freundliche Person dafür, die bürokratierelevanten Aspekte meines Lebens in Ordnung zu bringen. Das kostet mich weniger Geld, als ich vorher für Mahn-, Inkasso- und Überziehungsgebühren ausgeben musste. Und ganz ohne Aufpreis ist auch meine Lebensqualität deutlich gestiegen, denn ich brauche nicht mehr nachts wachzuliegen und mit mir zu hadern, weil meine guten Vorsätze immer wieder erfolglos bleiben.

Wer disziplinlos ist und vom schlechten Gewissen loskommen will, muss als Erstes aufgeben lernen. Ein guter Vorsatz, an dem man schon dreimal gescheitert ist, wird beim vierten Mal nicht besser funktionieren. Stattdessen muss eine neue Lösung her, und um diese Lösung zu finden, braucht man nur ein bisschen Experimentierfreude. Vielleicht führt das Experiment dazu, dass einem das Finanzamt böse Briefe schreibt oder das Auto abgeschleppt wird. Vielleicht passiert auch gar nichts Schlimmes. Und falls doch, ist es womöglich gar nicht so schlimm, wie man es sich immer vorgestellt hat.

Die Reaktionen auf das Buch, die wir privat zu hören bekommen, sind durchwegs positiv: Die Leser sind erleichtert, dass sie nicht die Einzigen sind, die nicht immer alles im Griff haben. Hin und wieder hören wir aber auch: So einen Lebenswandel können sich ja nur die wenigsten leisten. Dabei entstehen Aufschiebeprobleme nur dort, wo es an Zwängen und Kontrollen fehlt. So gesehen ist ein Arbeitsplatz, an dem Aufschieben nicht möglich ist, auch ein Luxus. Einerseits. Andererseits schiebt, wer tagsüber vom Chef beaufsichtigt wird, eben stattdessen zu Hause das Altglaswegbringen auf; so gleicht sich alles wieder aus.

Es gibt aber zum Glück für praktisch jeden Beruf (außer vielleicht den des Proktologen, und selbst das ist nicht gewiss) jemanden, der ihn gern ausübt. Und wer seine Beschäftigung so gewählt hat, dass er sich jeden Tag wieder zu verhassten Tätigkeiten zwingen muss, der darf ruhig mit seiner Selbstdisziplin angeben, wenn es ihm ein Trost ist. Ich gucke dann auch beeindruckt.

Mehr zum Thema "Angst" lesen Sie im Dossier der aktuellen BRIGITTE (ab 11. März am Kiosk). Darin:

Gute Angst? Warum es gute Gründe geben kann, sich mit seiner Angst anzufreunden.

Angst vor dem Partner? Eine Paarberaterin über die Ohnmacht der Frauen.

Bloß nichts Ungesundes: Warum es sich lohnt, sich um die Ernährung zu sorgen.

Und ein Interview mit Sarah Kuttner über ihr erstes Buch - inklusive Schweißausbrüchen und Herzrasen.

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Dinge geregelt kriegen - ohne einen Funken Selbstdisziplin Kathrin Passig / Sascha Lobo Rowohlt 288 Seiten 19,90 Euro

Foto: iStockphoto.com

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