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Kündigung in der Wirtschaftskrise: Fester Job oder Weltreise?

Nele Justus möchte mit ihrem Freund um die Welt reisen. Aber eine Kündigung mitten in der Wirtschaftskrise? Wie Nele sich entschieden hat...

Etwas ist anders, das merke ich schon an der Tür. Kein "Hallo", kein Kuss, nur Stille. Michael sitzt im Wohnzimmer und starrt auf sein Handy. "Mir wurde gekündigt", sagt er.

Zwei Jahre lang hatte er bei einer Firma für Online-Dienste gearbeitet, hatte Verträge mit Internet-Portalen verhandelt, sich um den Vertrieb gekümmert. Ein sicherer Job, so schien es, zukunftsträchtig - bis vor einigen Wochen dann ein neuer Investor die Firma übernahm. Kündigung. "Umstrukturierungsmaßnahmen", sagt Michael. Das war die Begründung seines Personalchefs. Wir sitzen auf der Couch, vor uns Pizza Margherita und Wein. Appetit haben wir keinen. "Morgen gehe ich zum Arbeitsamt", sagt Michael, "dann rufe ich den Anwalt an. Wenn schon gekündigt, dann mit einer ordentlichen Abfindung." Das erste Lächeln des Abends. Darauf stoßen wir an.

Wir kuscheln uns in die Sofakissen. "Lass uns wegfahren!", sagt Michael nach einer Weile. "Den Ärger vergessen." Ich liege in seinem Schoß und versuche in seinem Gesicht zu lesen. Er sieht nicht verbittert aus. Michael will immer das Beste aus allem machen. Also machen wir uns schöne Gedanken. Über Jobsuche, Formulare vom Arbeitsamt und Bewerbungen können wir uns morgen noch den Kopf zerbrechen. Jetzt träumen wir lieber: Michael möchte nach Peru oder China, ich nach Nepal und Feuerland. "Wir könnten eine Weltreise machen!", sagt Michael. Weltreise: Wie verlockend, wie wunderbar das klingt.

Wir gehen ins Bett, ich kann nicht einschlafen und träume trotzdem. Zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens habe ich den Himalaja bestiegen, war mit Rochen tauchen, habe meinen Koffer dreimal umgepackt und mich gefragt, wie viele Bücher ich wohl auf einer solchen Reise lesen könnte. Gehen oder bleiben? Meine Gedanken kreisen. Gehen, das heißt Ungewissheit, aber auch Abenteuer, Freiheit und jede Menge Zeit zu zweit. Bleiben bedeutet Sicherheit, aber auch Alltag, Absehbarkeit, Verharren in der Krise. Ich bekomme Kribbelfüße - wie immer, wenn ich aufgeregt bin. Ich rüttle an Michaels Schulter. "Was, wenn wir wirklich gehen?", frage ich und bin erstaunt über mich selbst. Risikobereitschaft zählt nicht zu den Eigenschaften, die Freunden als Erstes zu mir einfallen würden. Vor einigen Wochen habe ich eine Liste angelegt, fein säuberlich am Computer, mit all den Dingen, die ich in den kommenden Jahren machen will: Halbmarathon laufen, klettern lernen, Altbauwohnung mit Stuck und Parkett kaufen. Eine Weltreise stand nicht drauf.

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Trotzdem. "Wann, wenn nicht jetzt?", murmelt eine Stimme in meinem Kopf. Wenn nicht jetzt? Wann dann? Wir reden, bis es hell wird. Besprechen die Fürs und Wider. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um einfach loszufahren. Wir haben keine Kinder, keinen Kredit, keine Verpflichtungen. Wir sind gerade mal 29 und 33 Jahre alt. Uns bleibt noch genug Zeit für alles, wovon wir so träumen. "Und dein Job?", wirft Michael ein.

Mein Job: ein Glücksgriff. Ein unbefristeter Vertrag. Mit einem kleinen Team betreue ich ein Online-Magazin für junge Frauen. Es ist abwechslungsreich, macht jede Menge Spaß. Aber wer garantiert mir, dass die Wirtschaftskrise meinen Arbeitsplatz verschont? Jede Woche neue Schreckensnachrichten: von Freunden, von Kollegen - von Michael. Leute mit perfekten Lebensläufen und besten Qualifikationen sind plötzlich arbeitslos. Gute Arbeit zu machen reicht nicht mehr. Auch bei uns im Verlag mussten schon Leute gehen, vielleicht werden noch mehr gehen müssen. Was, wenn ich dann dazugehöre? Warum nicht die Zukunft selbst in die Hand nehmen, statt darauf zu warten, dass es jemand anderes tut?

Weltreise: Die ersten hundert Tage

Und das Geld? Meine Ersparnisse reichen nicht für eine Weltreise. Erst recht nicht für die Zeit danach. "Mach dir keine Gedanken", sagt Michael. Er hat gespart. So viel, dass es für uns beide reichen wird. Für die Reise - und auch für die Rückkehr. Ein halbes Jahr könnten wir davon leben, rechnet Michael, und wenn wir uns einschränken, sogar ein ganzes.

Eigentlich war das Geld als Anzahlung für den Altbau gedacht. "Die Wohnung kann warten, Geld ist zum Ausgeben da", meint Michael. Aber was, wenn wir auch nach einem Jahr keinen Job gefunden haben? Wenn ich als freie Journalistin keinen einzigen Text verkaufe? Was, wenn sich die Freiheit als Falle entpuppt? "Irgendetwas wird sich ergeben", sagt Michael. "Zur Not fahre ich Pizza aus." Ob das reicht? Ich rechne lieber nicht nach.

Zwei Tage später im Büro meiner Chefin: Ich quäle meine Kündigung hervor, fühle mich schrecklich, mein Magen ein einziger Kloß. "Doch lieber bleiben?", frage ich mich bereits, als ich ihr Büro verlasse. Dafür ist es zu spät. Es gibt kein Zurück. Und während dieser Gedanke in mein Bewusstsein sickert, macht sich ein unbeschreiblich gutes Gefühl breit.

Auf Weltreise: Was die Aussteiger auf Zeit Nele und Michael bislang erlebt haben, lesen Sie hier.

Text: Nele Justus Foto: privat Ein Artikel aus der BRIGITTE !6/09

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