Eines Tages bekam ich ein massives Alkoholproblem. Es bestand darin, dass ein guter Freund mir mitteilte, er würde von jetzt an auf Alkohol verzichten.
Erst mal kriegte ich einen Schreck, weil ich in Sorge war. Wenn wir uns trafen, tranken wir immer Rotwein zusammen, und es war schön. Wie würde es ohne Rotwein werden? Und dann bekam ich einen zweiten Schreck, weil ich überhaupt einen ersten bekommen hatte. Es ist gesund, nichts zu trinken. Ich sollte mich also freuen für meinen Freund und ihn unterstützen. "Cool", sagte ich, ohne jede Überzeugung. Woher diese Enttäuschung, dieses Gefühl, etwas sei zu Ende gegangen? Ich wusste es nicht. "Und warum?", fragte ich. Dies fand per Mail statt, wir planten unser nächstes Treffen. "Ich glaube“, schrieb mein Freund, "es würde mir guttun. Ich hab das Gefühl, nervös zu werden, wenn ich nichts zu trinken kriege. Das möchte ich nicht. Ich will mich davon frei machen."
"Mittelpunkt unserer Treffen war bisher stets eine Flasche Rotwein"
Ich schluckte. Trocken. Mein guter Freund lebt in Berlin, ich in Hamburg, wir kennen uns seit 30 Jahren, und zwei-, dreimal im Jahr treffen wir uns hier oder da und reden über die Arbeit, die Familien und unsere gemeinsamen Interessen. Mittelpunkt unserer Treffen war bisher stets eine Flasche Rotwein. Nicht inhaltlich, aber sie steht zwischen uns auf dem Tisch, wer den anderen besucht, bringt sie mit, und meistens öffnen wir noch eine zweite. Selten trinken wir die zweite Flasche auch aus. Aber es ist wichtig, dass sie da ist, wichtig zu wissen, dass wir könnten, wenn wir wollten.
Zu unserem nächsten Treffen brachte ich keine Flasche mit. Weil ich mir beweisen wollte, dass ich, wie es so schön heißt, auch ohne Alkohol fröhlich sein kann. Außerdem spürte ich einen inneren Druck zu demonstrieren, dass auch ich jederzeit darauf verzichten könnte.
"Die Minuten kriegen ein wunderbares Gewicht mit Alkohol"
Nun war ich also in Berlin, und wir saßen um den in der Mitte leeren Tisch und tranken tatsächlich Kräutertee. Ich liebe Kräutertee. In anderem Zusammenhang. Aber hier am Tisch? Da bringt er es einfach nicht. Nicht das, was Rotwein einem bringt. Oder Weißwein oder was auch immer. Dieses Gefühl, dass das Gespräch, das man hat, wichtig ist, dass es etwas Besonderes ist, dass es losgelöst vom Alltag ist, dass man sich was gönnt, was leistet, was traut, dass man ein Risiko eingeht, dass man ein klein wenig lauter, ein klein wenig klüger, ein klein wenig lebensfroher wird. Die Minuten kriegen ein wunderbares Gewicht mit Alkohol, die Gegenwart wird so plastisch und greifbar. Und weil wir beide das bisher so empfunden haben, waren wir uns näher als sonst, wenn wir Alkohol tranken.
"Komm, nur ein Schlückchen – damit du auch was im Glas hast!"
Alkohol trinken ist ein soziales Ereignis. Wer damit aufhört, wendet sich ab und zieht sich auf sich selbst zurück. Hauptsächlich erzählte mein guter Freund, dass sein Sozialleben praktisch zusammengebrochen war, seit er keinen Alkohol mehr trank. Ihm war vorher nie aufgefallen, wie viel bei Tisch über den Wein geredet wurde, wenn man bei Freunden zum Essen eingeladen war. In der Kneipe musste er sich den Kopf zerbrechen, um was Interessanteres als Mineralwasser oder Apfelschorle zu trinken, und im Büro oder in seiner recht großen Familie gab es ständig was, worauf man anzustoßen hatte: Komm, nur ein Schlückchen, damit du auch was im Glas hast.
"Um Gottes willen, dachte ich. Was bin ich ohne Alkohol?"
"Du übertreibst", sagte ich. "Ja, ein bisschen", sagte er und nippte am Tee. Aber ich wusste, dass er recht hatte. Dass Alkohol so schädlich ist und zugleich diese Wichtigkeit hat, diese gesellschaftliche Funktion, ist ein Widerspruch, den man im Grunde nur in Alkohol auflösen kann. Sportsendungen werden von Biermarken gesponsert, Eltern diskutieren beim Elternstammtisch nach der zweiten Runde besorgt über den Cannabis-Konsum ihrer Ältesten. In der Zeitung lese ich, dass jeder Fünfte in meiner Stadt ein Alkoholproblem hat, aber Nachschub gibt es an jeder Ecke, quasi rund um die Uhr.
Meine Hände suchten das Rotweinglas auf dem Tisch und fanden den Teebecher. Ich sagte was über eines unserer Lieblingsthemen, aber es war nicht besonders interessant oder intelligent. Um Gottes willen, dachte ich. Was bin ich ohne Alkohol? Und wie gefährlich ist, was ich mit ihm bin?
"Die Kontrolle gebe ich selbst beim unmäßigen Trinken nicht ab"
Ich habe den entsprechenden Test der Bundesgesundheitszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemacht (unter www.kenn-dein-limit.de). Mein Alkoholkonsum ist demnach "riskant" Dies ist, wohlgemerkt, die zweite von fünf Stufen. Das Beste, was man erreichen kann, ist "risikoarm". Man merkt, dass es für Fachleute keinen risikolosen Alkoholkonsum gibt. "Riskant" habe ich erreicht, weil ich einmal oder mehr in den vergangenen 30 Tagen fünf alkoholische Getränke an einem Abend zu mir genommen habe. Ja, das kann passieren. Selten, aber wenn, dann genieße ich es sehr. Ich lebe so kontrolliert, dass ich mich alle ein, zwei Monate an einem Minirausch erfreue. Betonung auf Mini: Die Kontrolle gebe ich selbst beim unmäßigen Trinken nicht ab. Aber, wie gesagt: riskant. Und wenn man auf die Hirnforschung hört, ist all das, was ich oben als Nähe, als bewusste erlebte Zeit, als kleine Weltveränderung beim Trinken beschrieben habe, nur eine Illusion.
"Alkohol drückt immer nur auf die Belohnungstaste"
Normalerweise kann unser Gehirn gut unterscheiden, ob etwas einfach nur unser Belohnungszentrum stimuliert oder ob es langfristig gut für uns ist. Darum kann ich fast immer nach der halben Tafel Schokolade aufhören und nach drei Stunden Fernsehserien: Es fühlt sich zwar im Moment super an, aber ich weiß, dass mir nach acht Stunden oder zwei Tafeln schlecht und traurig zumute wäre. Alkohol drückt immer nur die Belohnungstaste und sagt dir: Das, was du gerade tust, ist wunderschön, du hast keinen Grund, es infrage zu stellen.
Ich habe Alkohol erst relativ spät für mich entdeckt, mein erstes Bier habe ich mit 18 Jahren auf einer Kursfahrt in London getrunken. Und dann noch eins. Und noch eins. Dann konnte ich nicht mehr so gut aufstehen, ich fühlte mich schwer und leicht zugleich und dachte: Oha. Nicht schlecht. Mein Belohnungszentrum war sehr happy.
"Alkohol hilft mir, der Mensch zu sein, der ich gerne wäre"
Aber Alkohol funktioniert noch auf einer anderen Ebene, und erst seit mein guter Freund nicht mehr trinkt, habe ich Grund, darüber nachzudenken. Alkohol hilft mir, der Mensch zu sein, der ich gern wäre: aufgeschlossen, unverkrampft, gesprächig. Ich hasse Empfänge, und ich mag keinen Sekt, aber wenn ich beruflich zu einem Empfang muss, greife ich am Eingang begierig nach genau diesem Sekt, weil ich weiß: ein, zwei Gläser davon bringen mich dem Menschen, der ich heute Abend gern wäre, näher. Vielleicht ist es das, was mein guter Freund meint mit: sich abhängig zu fühlen, sich frei machen zu wollen. Wäre es nicht ehrlicher und für meine Leber besser, wenn ich nicht mehr zu Veranstaltungen ginge, die ich ohne Alkohol schwer ertrage? Oder, vielleicht noch besser, wenn ich lernen würde, sie auszuhalten, indem ich mir sage: Ich bin halt einer von den zehn Prozent, die hier schüchtern und verkrampft herumstehen? Davon ginge die Welt auch nicht unter. Vom Trinken vielleicht schon.
"Indem ich trinke, markiere ich einen Übergang. Von der Arbeit in den Feierabend"
Ich kenne mir eng verbundene Menschen, die der Alkohol fertiggemacht hat. Tragödien, deren Treibstoff Alkohol war. Ich weiß, dass "Risiko" nicht nur ein Wort ist, dass heimelig nach Brettspiel und Wim Thoelke klingt. Eben weil ich das weiß, stört es mich so, dass der Alkoholverzicht meines guten Freundes mich stört. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass es mich womöglich noch mehr stören würde, wenn meine Frau sagte: Ich trinke nichts mehr. Was bin ich für ein Scheusal, fast brauche ich einen Schnaps auf diese Erkenntnis. Für Frauen ist Alkohol ein noch größeres Gesundheitsrisiko als für Männer. Das weiß ich, trotzdem wäre es für mich ein Verlust, mit meiner Frau abends kein Glas Wein oder zwei mehr zu trinken.
Was liebe ich wirklich so am Alkohol? Indem ich trinke, markiere ich einen Übergang. Von der Arbeit in den Feierabend. Vom Alltäglichen in Feierliche. Oder eben vom Netten ins Freundschaftliche, Unkontrollierte, Offene. Vom Distanzierten in die Nähe. Der Alkohol verursacht in mir eine Veränderung, die mir signalisiert. Jetzt beginnt etwas Neues. Alkohol ermöglicht und feiert diesen Übergang zugleich.
"Ich weiß jetzt mehr über mich, und ich weiß, dass ich aufpassen muss"
Mein Glück ist vielleicht, dass ich nicht gern allein trinke, nie. Es ist jetzt fast ein Jahr her, dass mein guter Freund aufgehört hat zu trinken, langsam merke ich: Vielleicht habe ich noch ein anderes großes Glück. Nämlich, dass mir die Vorstellung unerträglich wäre, wenn jemand in fünf Jahren sagt: Hast du eigentlich noch Kontakt zu deinem guten Freund in Berlin?, und ich müsste antworten: Nein, denn er trinkt keinen Alkohol mehr. Das wäre lächerlich und dumm, ich kann es nicht akzeptieren. Und tatsächlich bin ich ihm dankbar: Sein Verzicht hat mich gezwungen oder eingeladen, über mich und mein Trinken nachzudenken. Ich weiß jetzt mehr über mich, und ich weiß, dass ich aufpassen muss. Das ist gut. Ich würde gern mit ihm anstoßen auf diesen Übergang, aber: Es geht auch so.
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