Das Leben, insbesondere das eines Menschen, ist schon eine interessante und merkwürdige Angelegenheit. So oft ist es anstrengend und ungemütlich, immer wieder ist der Weg offen und unklar, ständig hat man das Gefühl zu improvisieren und keine Ahnung zu haben, was man tut. Dann wiederum ist es manchmal so unglaublich schön. Alles fühlt sich richtig an, man kennt seinen Platz im Universum, ist zutiefst zufrieden und fühlt sich mit sich selbst und seinem Schicksal im Reinen.
Und? Ist das Leben dabei nun schwer oder leicht? Oder sollte es eines von beidem sein? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Dass wir es manchmal als schwerer empfinden, als es tatsächlich ist oder als es sein müsste, scheint jedoch ein typisch menschlicher Tick zu sein. Gründe für dieses Phänomen gibt es viele. Folgende drei sind nur willkürlich ausgewählte Beispiele.
Psychologie: Warum sich das Leben manchmal schwerer anfühlt, als es ist
1. Du hast offene Wunden – von denen du vielleicht nichts weißt.
Wer schon einmal eine Sportverletzung oder sonstige körperliche Zipperlein hatte, weiß: Der verletzte Körperteil braucht Zeit und vor allem Ruhe, um zu heilen. Es erscheint beinahe wie Zauberei, wie sich ein gestresster oder gebrochener Knochen, ein gezerrter Muskel oder eine gereizte Sehne Stück für Stück regeneriert und erholt, wenn man ihn oder sie für eine Weile einfach nur entlastet.
Das gleiche Prinzip gilt für viele mentale Wunden und Überlastungserscheinungen. Wer ein Trauma erlitten oder über einen längeren Zeitraum die eigenen psychischen oder kognitiven Belastungsgrenzen überschritten hat, braucht oft – eventuell neben einer Therapie – vor allem Zeit und Ruhe, um sich zu erholen. Doch wie viele Menschen nehmen sich schon Zeit zum Ausruhen?
Einerseits wissen viele gar nicht, dass sie überhaupt verletzt sind. Ein Großteil unserer psychischen Verfassung wird geprägt, lange bevor wir es bewusst mitbekommen. Unser Selbstbild zum Beispiel. Oder unsere Weltsicht. Und unser Bindungsverhalten. Wenn in unserer frühen Lebensphase etwas in uns kaputt gegangen ist, merken wir das oft erst sehr viel später, wenn wir mitten im Leben sind. Dann wiederum tun wir uns meist lange, lange schwer damit, dafür auf die Bremse zu treten. Denn wenn wir mit einem kaputten Fahrrad schon so weit gekommen sind, geht es jawohl sicher auch noch weiter. Vielleicht. Allerdings weniger leicht als mit einem heilen Flitzer.
Andererseits unterschätzen viele Menschen immer noch, wie zentral die psychische Gesundheit für unser Leben und unsere Leistungsfähigkeit ist. Die wenigsten würden mit einem gebrochenen Schienbein einen Marathon laufen. Doch nach dem Tod eines nahen Angehörigen springen viele Menschen zwei, drei Tage später wieder in ihr Rad aus Arbeit, sich um andere Kümmern und Vorgeben, alles im Griff zu haben. (Einigen mag es in der Trauerphase helfen, sich abzulenken und das eigene Leben schnell fortzuführen, aber ihr versteht hoffentlich meinen Punkt).
Was auch immer dahintersteckt, wenn ein verwundeter Mensch sich keine Zeit und Ruhe zur Heilung lässt: Dass sich sein Leben für ihn dann schwer anfühlt, ist kein Wunder. 42 Kilometer fühlen sich mit einem gebrochenen Schienbein wahrscheinlich auch wie eine Ozeanüberquerung an. Auf einer Hängebrücke. Mit Blasen an der Hacke.
2. Du hast sehr hohe Ansprüche an dein Leben.
Bei allem Respekt vor den Herausforderungen unserer Zeit: Es geht den meisten Menschen in unserer Gesellschaft vergleichsweise gut. Hätten wir vor 500 Jahren gelebt, wären wir froh gewesen, das 30. Lebensjahr zu erreichen, heute bekommen wir Panik und fürchten um unsere Existenz, wenn wir plötzlich nicht mehr so viel für unser Geld bekommen wie vor zwei Jahren.
Gewiss sind unsere Sorgen, Bedürfnisse und Ansprüche uns überlassen und grundsätzlich berechtigt. Wir können uns allerdings entscheiden: Wenn wir sehr viel wollen und vom Leben erwarten, müssen wir wahrscheinlich dafür kämpfen und es wird anstrengend. Wenn wir hingegen mit weniger zufrieden und bereit sind zu verzichten, kann das unseren Weg leichter und entspannter machen.
3. Du nimmst dich und deine Rolle sehr ernst.
Viele Menschen haben ein stark ausgeprägtes Verantwortungsgefühl, und die meisten empfinden das Bedürfnis, ihrer Existenz eine Bedeutung zu geben. Daran ist nichts schlecht oder verkehrt – es kann das Leben allerdings schwer machen. Schwerer, möglicherweise, als es sein muss. Die Verantwortung, die einige Menschen auf sich lasten spüren, ist meistens sehr viel kleiner, als sie denken. Zum Beispiel die Verantwortung gegenüber ihren Kindern. Oder Eltern. Gegenüber ihren Freund:innen oder Kolleg:innen.
Natürlich verdienen die Menschen, mit denen wir verbunden sind, dass wir unsere Rolle ihnen gegenüber bestmöglich erfüllen. Natürlich sind Väter und Mütter dafür zuständig, ihr Baby nach bestem Wissen großzuziehen und ihm auf die Beine zu helfen – wenn sie es schon in die Welt setzen, müssen sie sich auch kümmern. Doch den Großteil der Verantwortung für einen Menschen trägt dieser für sich selbst (sofern er dazu in der Lage ist – Babys zum Beispiel dürfen sich ausnahmsweise tragen lassen). Wir können für andere da sein und ihnen helfen, doch wirklich abnehmen können wir ihnen oft weitaus weniger, als wir uns einreden.
Was wiederum das Bedürfnis nach Sinn und Bedeutung angeht: Es gibt sehr viel mehr als genug Menschen auf dieser Welt. Es können und müssen nicht alle ein Leben führen, das zur Folge hat, dass ihr Name in einem Geschichtsbuch auftaucht. Niemand weiß, was wir Menschen auf dieser Welt sollen. Sollen wir sie kaputt machen? Sollen wir sie verlassen und Avatar erobern? Sollen wir sie beschreiben? Oder erklären? Oder schön finden?
Hoffentlich sollten wir sie bebauen und befahren, denn sonst haben wir definitiv versagt. Vielleicht sollen wir auch gar nichts und sind einfach nur Zeug:innen und gleichzeitig Versuchsteilnehmende bei einem offenen Experiment, das zeigen wird, was passiert, wenn eine Lebensform mit einem anpassungs- und lernfähigen Nervenbündel ausgestattet ist.
Auf jeden Fall können wir so oder so nur raten, was unserer Existenz Bedeutung geben würde. Die Wahrscheinlichkeit, falsch zu raten und uns für etwas völlig Bedeutungsloses anzustrengen, ist vermutlich ähnlich groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass ein eher einfaches, durchschnittliches Leben mit ein paar Menschen, denen wir wichtig sind, bedeutungsvoll genug ist.