Tendenziell verbinden wir Weisheit mit Lebenserfahrung. In unserer Vorstellung sind weise Menschen in der Regel eher älter, klug und wissend durch all das, was sie in ihrem Leben durchgemacht und gesehen haben. Doch diese Verknüpfung von Weisheit und fortgeschrittenem Alter ist keineswegs zwingend. So verstand etwa Platon unter Weisheit eine der vier Kardinaltugenden (neben Mut, Leidenschaft und Gerechtigkeit), die wir alle unabhängig unseres Jahrgangs kultivieren können, und im Mittelhochdeutschen war erfahren nur eine Teilbedeutung des Begriffs wis, der ebenso im Sinne von verständig und kundig gebraucht wurde. Würden wir außerdem die gesamte Menschheit befragen und auf ihre Weisheit testen, würden wir feststellen: Junge Menschen können sehr weise sein, während alte Menschen nicht automatisch weise sein müssen.
Auch in der Psychologie wird Weisheit nicht vorrangig am Alter gemessen, sondern potenziell jedem Menschen zugeschrieben. Um zu erfassen, wie stark die Persönlichkeitskomponente bei einer bestimmten Person ausgeprägt ist, haben die Psychologen Dilip Jeste (University of California in San Diego) und Michael Thomas (Colorado State University) einen Fragen- beziehungsweise Aussagenkatalog erstellt, über den wir unseren Weisheitsgrad ermitteln können, den Jeste-Thomas Wisdom Index. Der Katalog ist in sieben Abschnitte unterteilt, die nach Ansicht der Psychologen essenzielle Bestandteile von Weisheit sind:
- Entschlusskraft/ Entscheidungsfreude
- Selbstreflektiertheit
- Prosoziales Verhalten
- Beratungskompetenz (Social advising)
- Gefühlsregulierung
- Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven
- Spiritualität
In der langen, ausführlichen Version des Weisheitstests bekommen Teilnehmende zu jeder dieser Kategorien vier Aussagen vorgelegt, denen sie mehr oder weniger stark zustimmen können (ich stimme voll zu, ich stimme zu, neutral, ich stimme nicht zu, ich stimme überhaupt nicht zu). In einer kürzeren Version haben die Psychologen die Anzahl der Aussagen reduziert und für jedes Kriterium eine ausgesucht, die besonders repräsentativ und prägnant ist. Mithilfe dieser Version, die nach ersten Tests nahezu gleichermaßen belastbare Ergebnisse liefert wie die lange Variante, können wir in ein bis zwei Minuten einen Eindruck darüber gewinnen, ob wir oder andere Menschen weise sind.
Die sieben Komponenten der Weisheit – wie weise bist du?
1. Entscheidungsfreude
Mit Entscheidungsfreude ist gemeint, wie schnell und selbstständig wir Entscheidungen im Leben treffen. Die repräsentative Aussage, die die Psychologen für dieses Weisheitskriterium ausgewählt haben, lautet:
- "Ich neige dazu, wichtige Entscheidungen so lange, es geht, aufzuschieben."
2. Selbstreflektiertheit
Setzen wir uns mit uns und unseren Handlungen auseinander? Versuchen wir zu verstehen, warum wir fühlen, wie wir fühlen, oder tun, was wir tun? Um solche Fragen geht es bei der Selbstreflektiertheit, die Jeste und Thomas mit folgender Aussage auf den Punkt gebracht sehen:
- "Ich vermeide Selbstreflexion."
3. Prosoziales Verhalten
Mit prosozialem Verhalten ist beispielsweise gemeint, ob wir hilfsbereit sind, unseren Mitmenschen Gutes wollen und tun, uns in andere hineinzuversetzen bereit sind. Die alles entscheidende Aussage hierzu lautet:
- "Ich vermeide Situationen, von denen ich weiß, dass meine Hilfe gebraucht wird."
4. Beratungskompetenz
Das Kriterium der Beratungskompetenz (englisch Social Advising) erfasst, ob wir anderen Menschen brauchbare Ratschläge geben, das heißt, ob wir uns in die Lage von anderen versetzen und unsere Lebenserfahrung auf ihre Situation anwenden können. Auch in unserer Alltagsvorstellung ist dies oft eines der Kernelemente von Weisheit. Die zugehörige Aussage im Jeste-Thomas Wisdom Index:
- "Ich weiß häufig nicht, was ich Leuten sagen soll, wenn sie mich um Rat fragen."
5. Gefühlsregulierung
In der Kategorie Gefühlsregulierung finden sich Aussagen, die darauf ausgerichtet sind herauszufinden, wie beherrscht wir auch unter dem Einfluss extremer Emotionen bleiben. Als zentrale Aussage haben die Psychologen folgende ausgewählt:
- "Unter Druck bleibe ich ruhig."
6. Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven
Können wir akzeptieren, wenn jemand nicht unserer Meinung ist? Verstehen wir, dass wir es nicht besser wissen als andere? Um solche Fragen dreht sich dieses wichtige Weisheitskriterium, das sich auf die Schnelle am besten anhand dieser Aussage ermitteln lässt:
- "Ich bin gerne mit unterschiedlichen Ansichten konfrontiert."
7. Spiritualität
Ob Spiritualität eine Komponente von Weisheit ist, mag umstritten sein, und tatsächlich haben die zwei US-Psychologen ihren Index erst nachträglich darum ergänzt. Gemeint ist hier nicht Religiosität oder das Bekenntnis zu einem religiösen Glauben, sondern die Anerkennung und der konstruktive Umgang mit einer wie auch immer gearteten immateriellen Realität. Die Aussage zur Überprüfung lautet:
- "Mein spiritueller Glaube gibt mir innere Stärke."
Auflösung
Wer auf allen Ebenen den höchsten Weisheitsgrad nach dem Jeste-Thomas-Modell innehat, kann den Aussagen unter 7, 6 und 5 ehrlich und aus vollem Herzen zustimmen und die restlichen Aussagen ebenso ehrlich und beherzt von sich weisen. Wer es doch noch etwas genauer wissen möchte, kann nach Angabe einiger personenbezogener Daten über folgenden Link die Langversion des Weisheitstests auf Englisch machen und damit die Forschung der beiden Psychologen unterstützen. Und wer sich fragt, was nützt es mir eigentlich zu wissen, ob ich weise bin oder nicht: Ob wir mit Weisheit besonders viel Erfahrung verbinden, eine Kardinaltugend oder Albus Dumbledore (der übrigens in Fantastische Tierwesen 2 auch als junger Mann schon weise erschien), Weisheit befähigt uns zu einem guten Leben. Weise Menschen wissen mit Höhen und Tiefen umzugehen, haben begriffen, dass sie vieles nicht rational erfassen und verstehen können, dafür manches aber spüren. Sie empfinden sich als Teil einer Gemeinschaft und der Natur, erkennen intuitiv jedoch zugleich ihre Absolutheit und Einzigartigkeit an. Und vieles mehr.
Sicher wird niemand als weiser Mensch geboren, ein gewisser Fundus an Erfahrung ist erforderlich, um Weisheit kultivieren zu können. Doch wir müssen nicht erst alt werden, um weise zu leben, wenn wir das wollen. Wir können unserer Weisheit auf die Sprünge helfen, indem wir uns in Selbstreflexion, Toleranz und (sozialer) Offenheit, Spiritualität, Empathie und einem gesunden Umgang mit unseren Gefühlen üben. Indem wir eigene Erfahrungen sammeln und nicht fremden zuschauen oder nacheifern. Das Leben ist schließlich zu unvorhersehbar und einzigartig, um etwas Wünschenswertes auf das Alter zu verschieben. Und das zu verinnerlichen, ist vielleicht auch schon ein kleiner Schritt zur Weisheit.
Verwendete Quellen: psychologytoday.com, survey.alchemer.com