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Hirnforscher verrät Warum du dich freust, wenn die Zahnpasta alle ist – und was das über dich verrät

Hirnforschung: Eine Frau beim Zähneputzen
© Prostock-studio / Shutterstock
Unser Gehirn ist genial, doch manchmal gibt es uns im Alltag Rätsel auf. Wieso empfinden wir zum Beispiel Freude, wenn eine Zahnpastatube leer ist oder eine Creme? Der Neurobiologe Professor Doktor Martin Korte hat es uns erklärt.

Ob Sommer oder Winter, Herbst oder Frühling. Ob in schweren Zeiten oder in leichten, in tiefgründigen Phasen oder in seichten. Können kleine Freuden und Stimmungsbooster im Alltag jemals ungelegen kommen? Ein Sonnenschein, der uns ein angenehm warmes Gefühl auf der Haut beschert. Ein Lächeln im Vorbeigehen, das stummes Verständnis signalisiert. Eine 50-Cent-Münze auf dem Gehweg, von der wir uns vor zwanzig Jahren eine Kugel Eis hätten kaufen können. Eine leere Tube Zahnpasta oder Handcreme oder Haarshampoo oder Kaffeedose, die wir mit dankbarer Genugtuung endlich entsorgen oder wieder auffüllen können. Manchmal sind es wirklich die Kleinigkeiten, die uns das Leben versüßen. Aber Moment mal? Was bitte hat eigentlich eine leere Tube Zahnpasta an sich, das Anlass zur Freude bietet? Wir haben den Neurobiologen Professor Doktor Martin Korte gefragt, ob er zufällig eine Idee hat.

Fast leere Zahnpasta beschäftigt unser prospektives Gedächtnis

"Tatsächlich kenne ich dieses Phänomen von mir selbst durchaus sehr gut", sagt der Professor. Er vermutet, dass es insbesondere einer bestimmten Gruppe von Menschen beziehungsweise einem Charaktertyp vertraut sein dürfte: Jenen, die tendenziell gerne vorbereitet sind und ihre künftigen Schritte am liebsten weit vorausplanen. "Meine Idee wäre, dass dieses Gefühl von Freude oder Erleichterung daher rühren könnte, dass wir in dem Moment, da etwas aufgebraucht ist, fürs Erste einen Haken darunter setzen können und damit freie Planungskapazität gewinnen."

Laut Martin Korte sind wir beziehungsweise ist unser Gehirn ständig damit beschäftigt, vorauszuplanen und unsere Zukunft zu verwalten – zum Teil, ohne dass wir es überhaupt merken. Dafür ist eine Region zuständig, die sich ganz vorne in unserem Gehirn befindet, in unserem Stirnlappen, und die sich prospektives Gedächtnis nennt. "Die meisten Leute denken bei dem Begriff Gedächtnis üblicherweise an das Gedächtnis, das auf die Vergangenheit gerichtet ist und in dem unsere Erinnerungen abgespeichert sind", sagt der Neurobiologe, "die vorrangige und viel wichtigere Aufgabe unseres Gedächtnisses ist jedoch, unsere Zukunft zu organisieren. Durch Visionen oder Planungen oder, ganz trivial, indem wir uns vornehmen in zehn Minuten die Freundin zurückzurufen oder das Gartenwasser abzustellen." Tatsächlich diene sogar unser vergangenheitsorientiertes – unser retrogrades – Gedächtnis vorwiegend dazu, uns dazu zu befähigen, zu planen und vorauszudenken: Schließlich sind unsere Erfahrungen und Erinnerungen wertvolle Daten und Referenzen, aus denen wir Vorhersagen und Annahmen über die Zukunft generieren können. 

Nun liegen Vorteile und Nutzen unseres retrospektiven Gedächtnisses, also unserer recht ausgeprägten Fähigkeit zur Zukunftsorganisation, einigermaßen auf der Hand: Es versetzt uns in die Lage, vorzusorgen und vorausschauend zu handeln. So können wir zum Beispiel statt uns im Sommer an Erdbeeren zu überessen, aus einem Teil davon Marmelade kochen und damit den erdbeerlosen Winter überbrücken. Oder wir können nach dem zweiten Glas Wein auf Wasser umsteigen, weil wir am nächsten Morgen zum Sport verabredet sind. Wir können uns unser Geld einteilen, damit es bis zum Ende des Monats reicht. Und wir können eine neue Tube Zahnpasta kaufen, wenn sich die, die wir gerade benutzen, bereits alarmierend leicht anfühlt.

Planen kostet Energie

Auf solche Ideen überhaupt zu kommen und entsprechende Maßnahmen tatsächlich zu ergreifen, kostet uns allerdings Energie. Unser prospektives Gedächtnis nimmt ordentlich Kapazität in Anspruch, denn die Zukunft zu verwalten, ist anstrengend. Sogar dann, wenn wir es gar nicht absichtlich tun, wie im Fall der zur Neige gehenden Zahnpastatube. "Unser Gehirn notiert sich im Stirnlappen auf seinem mentalen Notizblock, meist ohne dass wir es direkt merken, dass da bald etwas zu Ende ist und dass wir dann entsprechend Nachschub organisieren oder bereits im Haus haben müssen", sagt der Neurobiologe. Und allein dieses Wissen verbraucht Energie und Speicherplatz – vorausgesetzt, wir gehören zu den Menschen, die gerne gut organisiert sind und denen es wichtig ist, ihre Zähne mehrmals täglich und mit Zahnpasta zu putzen. Fühlen wir uns ohnehin wohl damit, zu improvisieren und herumzuexperimentieren, mag uns eine zur Neige gehende Tube Zahnpasta weniger beschäftigen. Und eine zur Neige gegangene Tube entsprechend weniger erleichtern oder erfreuen.

Gewiss können bei uns, wenn wir die Freude über leere Zahnpasta, Cremes, Shampoos und Co. kennen, noch weitere, individuelle Faktoren zu diesem Gefühl beitragen. Zum Beispiel die Tatsache, dass endlich dieses lästige Ausquetschen der fast leeren Tube ein Ende hat. Oder dass wir etwas Altes, Gebrauchtes durch etwas Neues, Unangebrochenes ersetzen dürfen. Doch die frei werdende Kapazität in unserem Gedächtnis dürfte, jedenfalls nach der Theorie von Martin Korte, bei den meisten betroffenen Menschen eine Rolle spielen.

Gesunde Balance zwischen Planen und Spontanität

So genial und vorteilhaft unser prospektives Gedächtnis ist – und so hoch sein Anteil an der Tatsache, dass wir nach wie vor diesen Planeten bevölkern und es mittlerweile mehrere Milliarden von uns gibt –, geben wir zu viel unserer Hirnkapazität dafür her, kann das nach hinten losgehen. Denn die kognitive Energie, die wir für das Planen und Verwalten der Zukunft verwenden, fehlt dann wiederum unserem Arbeitsgedächtnis, das wir beispielsweise brauchen, um uns zu konzentrieren und auf einen Moment zu fokussieren. "Typischerweise sind die Menschen, die jede Menge Pläne und Ideen für die Zukunft haben, besonders gefährdet, diejenigen zu sein, die letztendlich kaum etwas davon umsetzen, weil sie nicht in der Lage sind, die Gegenwart zu organisieren", so der Hirnforscher. Zudem kann uns eine übermäßige planerische Tätigkeit unflexibel werden lassen, sofern sie dazu führt, dass wir nicht mehr imstande sind, von unseren Plänen abzuweichen, wenn es die Situation erfordert. "Es ist grundsätzlich wichtig, dass wir unser Leben ausbalancieren zwischen der Offenheit für Spontanität, dem Leben im Augenblick, und dem Planen der Zukunft", sagt Martin Korte. Doch wenn wir dabei meistens einen frischen Atem haben, sind wir wahrscheinlich schon auf einem relativ guten Weg.

Hirnforscher verrät: Warum du dich freust, wenn die Zahnpasta alle ist – und was das über dich verrät
© PR

Professor Doktor Martin Korte ist Neurobiologe und Leiter der Abteilung "Zelluläre Neurobiologie" an der Technischen Universität Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem zelluläre Grundlagen von Lernen und Gedächtnis sowie Wechselwirkung zwischen Immunsystem und Gehirn bei der Entstehung der Alzheimer Erkrankung. In seinen Büchern "Hirngeflüster“, "Wir sind Gedächtnis“ und "Jung im Kopf“ bereitet er Erkenntnisse aus der Hirnforschung alltagsrelevant und für ein breites Publikum auf. Fernsehzuschauer:innen kennen Martin Korte vielleicht aus der RTL-Quizshow mit Günther Jauch "Bin ich schlauer als …", für die er die Fragen entwickelte.

Für unsere Kolumne "durchdacht" wird der Neurobiologe von nun an regelmäßig auf Phänomene eingehen, die uns in unserem Alltag Rätsel aufgeben und die uns über uns selbst stutzen lassen. Du möchtest ein solches Phänomen erklärt haben? Dann kannst du unserer Autorin deinen Themenvorschlag sehr gerne in einer E-Mail senden (schumann.susanne@guj.de).

Brigitte

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