Sprache ist in unserem Leben so alltäglich und allgegenwärtig, dass wir selten darüber nachdenken. Und uns noch seltener klarmachen, welche Bedeutung sie für uns hat. Dabei ist bekannt, dass Sprache in hohem Maße unsere Wahrnehmung und unser Verhältnis zur Welt prägt. So zeigten zum Beispiel Untersuchungen, dass Sprechende des Berinmo, einer Sprache in Papua-Neuguinea, keinen Unterschied zwischen einem blauen und einem grünen Quadrat erkennen (wenn die Farbtöne physikalisch, also gemessen an ihren Wellenlängen, nicht zu weit auseinander liegen) – englischsprachige Menschen hingegen schon. Wie kommt's? Man vermutet, dass es daran liegt, dass es im Berinmo keine unterschiedlichen Bezeichnungen für Blau und Grün gibt. Beides wird unter dem Begriff "nol" zusammengefasst.
Was wir nicht benennen können, bereitet uns mindestens Schwierigkeiten
"Um irgendetwas in unserer Umgebung wahrzunehmen, müssen wir es als anders wahrnehmen", schreibt dazu der Psychologe Kevin Dutton in seinem Buch "Schwarz. Weiß. Denken!", "Das Objekt unserer Wahrnehmung muss hervorstechen. Aber dann brauchen wir eine Möglichkeit, den Unterschied definieren und identifizieren zu können; einzugrenzen und genau bestimmen zu können, was es einzigartig und unverwechselbar macht." Und diese Möglichkeit schenkt uns Sprache.
Mithilfe unserer Sprache ordnen und verarbeiten wir, was wir erleben. Wenn wir etwas sprachlich nicht erfassen können, bereitet es uns entweder Schwierigkeiten – oder existiert eben nicht für uns. Deshalb kann es uns in einigen Bereichen von großem Nutzen sein und erheblich voranbringen, uns mit unserer Sprache auseinanderzusetzen. Zum Beispiel beim Thema Fühlen.
Warum uns Sprache hilft zu fühlen
"Unser emotionaler Wortschatz ist unser Werkzeugkasten, um mit emotionalem Leid umzugehen", schreibt der Psychologe William Hwang bei "Psychology Today". Untersuchungen hätten gezeigt, dass die Fähigkeit, Gefühle zu identifizieren und präzise zu benennen, offenbar dazu führe, dass wir in stressigen Situationen weniger überwältigt sind und unsere (negativen) Emotionen besser handhaben können. So erzielten in einer Studie von 2012 Menschen mit einer Spinnenphobie, die im Zuge des Versuchs ihren emotionalen Wortschatz erweiterten, um zu beschreiben, was die Konfrontation mit einer Spinne in ihnen auslöste, größere Fortschritte im Umgang mit ihrer Angst (und Spinnen) als Versuchspersonen, die andere Ansätze ausprobierten (zum Beispiel Ablenkung oder Reframing).
Indem wir unsere Gefühle benennen, erkennen und identifizieren wir sie und ordnen sie ein. Das ist wiederum die Grundlage dafür, sie zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Dafür brauchen wir aber eine gewisse Auswahl an Begriffen in unserem emotionalen Wortschatz, ein gewisses Repertoire an Werkzeugen. Und das entwickelt sich in der Regel nicht von allein.
"The Gottman Feeling Wheel": Wie groß ist dein emotionaler Wortschatz?
Die meisten Menschen verfügen über einen emotionalen Grundwortschatz und nutzen regelmäßig Begriffe wie "traurig", "wütend", "fröhlich" oder "ängstlich", um ihre oder die Gefühle anderer Personen zu erfassen. An diesen Bezeichnungen ist nichts verkehrt. Sie beschreiben allerdings eher emotionale Spektren und können tatsächlich für völlig unterschiedliche Emotionen und Situationen stehen. So könnte "traurig" zum Beispiel zutreffen, wenn wir ...
- uns einsam fühlen,
- enttäuscht wurden,
- niedergeschlagen sind,
- (jemanden oder etwas) verloren haben,
- Langeweile verspüren.
"Ängstlich" kann meinen, dass wir ...
- unsicher sind,
- uns fürchten,
- Hilflosigkeit verspüren,
- Panik haben.
Wie viele Schattierungen und Nuancen es in unseren großen emotionalen Spektren gibt, haben Psycholog:innen des Gottman-Instituts in ihrem sogenannten "Feeling Wheel" ("Gefühlsrad") veranschaulicht. Darin ordnen sie sechs Gefühlsspektren (wütend, ängstlich, fröhlich, stark, traurig, entspannt) jeweils zwölf weitere Emotionen zu, die in dieses Spektrum fallen. Welche dieser Begriffe, die sich laut diesem Ansatz mit dem Oberbegriff "wütend" assoziieren lassen, nutzt du zum Beispiel, um deine Gefühlslage zu beschreiben? Und: Hättest du sie überhaupt alle ins Wut-Spektrum eingeordnet oder eher in ein anderes?
- verletzt
- zornig
- abscheulich
- rasend
- feindselig
- bedenklich
- skeptisch
- irritiert
- frustriert
- neidisch
- erbost
- aufgebracht
Wie vielfältige Begriffe unsere Gefühlswelt bereichern und ordnen können
Während es uns bei angenehmen Emotionen tendenziell leichter fällt zu unterscheiden und recht schnell sagen können, ob wir glücklich, fröhlich, zufrieden oder ausgeglichen sind, tun wir uns bei negativen Emotionen meist schwerer, zu differenzieren. Dabei wäre es gerade bei solchen Emotionen von Vorteil, wenn wir es öfter täten. Denn bei emotionalen Grundbegriffen wie "traurig", "wütend" oder "ängstlich" bleiben Hintergründe wie zum Beispiel der Auslöser zunächst einmal völlig offen. Es gibt sie natürlich, und wir mögen sie auch kennen, doch wir benennen sie nicht ausdrücklich mit. Vor allem auf die Hintergründe kommt es allerdings an, wenn wir auf ein Gefühl reagieren möchten. Warum also benennen wir sie nicht gleich mit – oder bemühen uns zumindest darum?
Laut William Hwang können wir unseren emotionalen Wortschatz aktiv ausbauen und erweitern, wenn wir es nur möchten. Schließlich können wir genauso jederzeit eine völlig neue Sprache lernen, also wieso sollten wir nicht? Zu Beginn mag es viel Aufmerksamkeit und Übung erfordern, jedes Mal, wenn wir uns "traurig" fühlen, genauer nachzuspüren und nach einer treffenderen Bezeichnung zu suchen. Doch mit der Zeit werden wir besser darin, nehmen die Unterschiede und Details schneller wahr, kommen unmittelbarer auf den passenden Begriff. Wir lernen und trainieren unser Gehirn und machen die gleiche Erfahrung wie bei einer Fremdsprache, die wir umso besser beherrschen, je mehr wir sie nutzen. Und wenn wir es einmal geschafft haben, unseren aktiven emotionalen Wortschatz zu erweitern, wird unsere Gefühlswelt paradoxerweise nicht nur reicher und bunter sein – sondern auch einfacher und besser sortiert.
Verwendete Quellen: psychologytoday.com, cdn.gottman.com, Kevin Dutton "Black and White Thinking. The burden of a binary brain in a complex world"