Es gibt Nächte, da muss man einfach allein sein. Du gehst durch die Straßen und suchst eine Bar. Du setzt dich zu den einsamen Wölfen und übrig gebliebenen Helden. Du bestellst einen Scotch und redest mit niemandem. Du bist schon in bester Gesellschaft, mit dir selbst. Und dann kommt einer und säuselt: "Na, Süße, noch allein heute Nacht?" Da legst du ein paar Scheine auf die Theke und du gehst hinaus. Du wirst dir einen anderen Ort und eine andere Nacht für einen Unbekannten suchen, im Urlaub vielleicht. Aber nicht jetzt, weil hier Alleinsein peinlich ist wie eine schlecht sitzende Frisur.
So viele Menschen leben allein, elf Millionen haben keinen Partner. 75 Prozent von ihnen sehnen sich nach einem Leben zu zweit. Wissen die eigentlich, was sie sich da wünschen? Ahnen sie, was ihnen entgeht? Alleinsein kann so wunderbar sein. Tun und lassen, was man will. Nichts erklären müssen. Die Familie ist nach den Feiertagen zurück ins Rheinland gefahren, die letzten Freunde sind am Neujahrsmorgen abgereist, jetzt habe ich eine ganze Wohnung nur für mich allein. Endlich Zeit für Unvorhergesehenes. Morgens um vier Spaghetti kochen. Die Küche aussehen lassen wie Sau. Mit niemandem sprechen müssen. Die neue CD von Jamie Cullum hören. Sich selbst auf den Grund gehen. Bilder malen. Pläne machen. Offline sein. Schon gilt man als Eigenbrötlerin. Eigenbrötler sind Junggesellen, die ihr Brot allein backen. Ist doch gut. Ist es nicht. Wer hat dem Alleinsein diesen schlechten Ruf verpasst? Wir verwechseln allein sein mit verloren sein. Mutterseelenallein. Als Neugeborene können wir keinen Tag überleben, wenn nicht jemand für uns sorgt. Als Kleinkind haben wir Angst, dass Mama nicht wiederkommt, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit macht. Nach Trennungen fühlen wir uns auch später noch von Gott und der Welt und allem verlassen. Früher galt als schlimmste Strafe nicht der Tod, sondern die Vergibtbannung. Heute fühlen wir uns in Massen isoliert. Und am Schluss? Auch beim Sterben ist jeder für sich allein. Das weißt du, und manchmal fürchtest du das Alleinsein, dann nennst du es Einsamkeit. Wenn nicht genug Freunde da sind. Niemand, mit dem du spät abends deine Traurigkeit teilen möchtest. Keine Freundin, die geduldig zuhört und sich blöde Ratschläge verkneift. Kein Freund, der dich in ein kleines Restaurant einlädt. Wenn die Liebe fehlt, dann ist Alleinsein die Hölle, dann willst du nichts wie raus. Aber mitten im übervollen Leben träumst du wieder von menschenleeren Stränden, entlegenen Berghütten und einsamen Inseln. Lauter anerkannte Sehnsuchtsorte, um allein zu sein. Und dann?
Es gibt vier grundlegende Bedürfnisse, die nur durch Alleinsein erfüllt werden können. Innere Einkehr ist der etwas altmodische Begriff für einen individuellen Prozess, der am besten unter Ausschluss der Öffentlichkeit passiert: Man denkt über sich, seine Beziehungen und seine Pläne nach. Kreativität entwickelt sich nur, wenn man allein und unzensiert seinen Gedanken, Gefühlen und Wünschen freien Raum lassen kann. Im Alleinsein bekommt man eine Ahnung, wie Freiheit und Unangepasstheit sich anfühlen. Und schließlich sind Erfahrungen von Spiritualität, Glauben oder überwältigende Emotionen intensiver, wenn sie allein erlebt werden. Diese grässliche Frage, sobald das Kino aus ist, das Licht angeht und man noch ganz benommen ist: "Und wie fandest du den Film?" Du willst noch nicht reden, du guckst und läufst noch wie die Hauptdarstellerin. Du spürst ihren Pullover auf deiner Haut und ihre Sehnsucht und ihre Kraft. Wenn du jetzt allein wärest, könnte der Film auch nach dem Film noch weitergehen.
Wie viel Alleinsein jemand braucht, ist eine Frage des Temperaments. Dass jeder es braucht, ist eine Tatsache aus der Biologie. Die Natur hat sich den Trick mit dem Schlaf ausgedacht, um uns Allein-Zeit zu verschaffen. Mit geschlossenen Augen regenerieren wir uns, träumen und halten die Welt für einige Stunden auf Abstand. Diese Fähigkeit nennt man auch Selbstregulierung. Sogar Babys können das schon. Sie strecken die Ärmchen, brummeln vor sich hin, horchen auf die Geräusche, die der Bauch und die Stimme machen. Sie sind ganz bei sich, sie machen erste Erfahrungen, dass sie sich selbst beruhigen und trösten können. Diese Momente ohne Mama sind winzige Anflüge von Autonomie und Zutrauen in sich selbst. Auch später suchen Kinder gern Orte auf, an denen sie allein sein können: Baumhäuser, versteckte Höhlen, das eigene Bett. Und noch später, in der Pubertät, wird der Rückzug zum Programm. Bei der Suche nach der eigenen Identität, wenn alte Werte nicht mehr stimmen und Neues noch nicht in Sicht ist, fühlt man sich oft allein, möchte es aber auch sein. Alle "Großen" haben die Einsamkeit gesucht, Buddha, Jesus, Mohammed. Und Künstler sowieso. Wer sich traut, allein zu sein, hat keine Angst, sich selbst zu begegnen. Wer sich traut, sucht eigene Antworten auf wichtige Fragen und schert sich nicht darum, was die anderen gerade machen. Alle reden von Geselligkeit und Beziehungen. Alle wollen immer über alles reden. Aber du erwischst dich dabei, wie du in der U-Bahn die Ohrstöpsel vom MP3-Player herausholst – und es ist nicht nur wegen der Musik, du willst die Leute um dich herum aussperren. Du willst allein sein mitten unter all den Menschen, die dir fremd sind und es auch bleiben sollen. Und wenn du ehrlich bist, hast du auch schon Krach mit deinem Mann oder mit der Schwester angefangen, bloß, um die Türen zu knallen und abzuhauen. Wolltest nicht mehr höflich sein, nicht mehr über den Alltagskram reden, nicht mehr tun, was sich gehört.Du bist im Wald oder auf freiem Feld herumgelaufen, hast tief Luft geholt. Bist in dir selbst angekommen. Hast gelacht, einfach so. Und dann gehst du wieder nach Hause, zu den anderen, und denkst: Gut, dass wir über dies und das geschwiegen haben.