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Ungewissheit: Ausprobieren ist das neue Planen

Ungewissheit: Frau steht vor Treppe
© Jacob Lund / Shutterstock
Schwer auszuhalten, wie sich das Leben gerade verändert. Rike Pätzold hat darauf einen anderen Blick. Sie ist Expertin für Ungewissheit und rät: Verbündet euch damit!

Gerade lösen sich sehr viele Gewissheiten auf: dass Arbeitsplätze sicher sind, dass sich der Staat aus der privaten Lebensgestaltung heraushält, dass um jedes Leben gekämpft werden kann. Wie erleben Sie das?

Rike Pätzold: Als Coach bekomme ich seit Wochen immer mehr Anfragen für Beratungen, auch über die Corona-Sprechstunde, die ich zu Beginn der Krise eingerichtet habe. Das sind kurze Einzelcoachings, kostenlos.

Was erzählen Ihnen die Leute?

Es geht oft einfach darum, die Ungewissheit auszuhalten. Dass wir Veränderungen als Stress empfinden, hat mit der Funktionsweise des Gehirns zu tun. Es will effizient arbeiten; kommen Störungen, schüttet der Körper Stresshormone aus. Das ändert sich erst mit der Gewöhnung an eine neue Situation.

Wie lang kann das dauern?

Wenn Sie es damit vergleichen, wie lang es dauert, bis man sich nach dem Umzug in ein fremdes Land eingewöhnt hat: mindestens ein bis drei Monate, aber das ist individuell.

Das heißt, wir stecken mittendrin. Wie reagieren die Menschen denn in dieser Phase?

Das ist auch bei jedem anders, aber die bekannten Reaktionsmuster Flucht, Kampf, Schock decken es schon gut ab. Viele haben die Realität verdrängt und finden die Maßnahmen ärgerlich, das ist die Flucht. Andere wollten in den Kampf ziehen, sie hamstern und horten. Viele sind regelrecht in Schockstarre verfallen und haben sich total zurückgezogen.

Alles nachvollziehbare Reaktionen, wenn sich die Lebenswirklichkeit so massiv verändert.

Ja, nur wird dabei übersehen, dass Ungewissheit zur Lebenswirklichkeit dazugehört. Es gibt keine Sicherheit, die gab es auch vor Corona nicht. Das Virus hat es uns nur vor Augen geführt. Ich habe vor Kurzem einen Satz gelesen, der es gut trifft: Man kann auch angeschnallt vom Himmel fallen.

Heißt, wir sollten in der jetzigen Situation nur im Jetzt leben und gar nicht mehr planen – dann können uns die Ereignisse auch nicht erschüttern?

Nein, die richtige Haltung liegt zwischen dem Prepper, der seit Jahren auf den Katastrophenfall vorbereitet ist, und einem Leben in den Tag hinein. Ich nenne es "Planen für Spontaneität": Ich weiß, es kann alles passieren, ich bereite mich darauf vor. Wie bei einer Urlaubsreise: Wer jeden Ausflug vorbucht, verpasst vielleicht tolle Erlebnisse. Aber es spricht nichts dagegen, vorher ein Buch über sein Urlaubsziel zu lesen, um sich ein bisschen auszukennen.

Nur konnte sich niemand auf die aktuelle Situation vorbereiten ...

Es geht nicht um einen konkreten Plan, den man in der Schublade hat, sondern um die Haltung, die man einnimmt. Zu akzeptieren, dass es jetzt erst mal nur um den nächsten Schritt geht, um die nächste Etappe. Was danach kommt, wissen wir nicht.

Wie können Sie als Coach Menschen aus dem Ungewissheitsstress helfen?

Indem ich mit ihnen einen Weg suche, der sie aus der Panik herausführt und ihnen hilft zu erkennen, dass sie ihr Leben immer noch gestalten können. Das sind Fragen wie: Was habe ich auf der Haben-Seite? Wen kenne ich, welches Netzwerk kann mich unterstützen? Da ist meist mehr Tragfähigkeit, als man in der Panik wahrnimmt. Ich muss oft an eine alte Science-Fiction-Geschichte von E. M. Forster denken: "The Machine Stops". Ja, die Maschine hat gestoppt, nach und nach bricht alles weg. Aber wir merken auch: Da geht noch ganz viel.

Zum Beispiel?

Der Messebauer, der jetzt in Supermärkten den Plexiglasschutz für Kassiererinnen baut – da kommen Bedarf und Talent zusammen. Dass es da neue Wege gibt, ist eine fundamental wichtige Erfahrung, die wir nicht machen, so lange die Maschine läuft.

Ist es nicht besonders schwierig, sich gerade bei kollektiver Ungewissheit handlungsfähig zu fühlen?

Ja, Angst steckt an, aber genauso auch die innere Haltung dazu. Die muss in die Firmen und Betriebe getragen werden, dann geht sie von den Führenden auf die Mitarbeiter über und so auf deren Familien. Emotionen können genauso ansteckend sein wie ein Virus. Deshalb habe ich die Corona-Sprechstunde eingerichtet: Damit man sich von einer gelasseneren Haltung anstecken lassen kann.

Sie haben Firmen und Führungskräfte schon vor Corona im digitalen Wandel und bei Umstrukturierungen gecoacht – worin unterscheiden sich die Themen nun? Oder sind die Aufgaben für Führungskräfte jetzt klassisches Change-Management?

Nein. Es geht jetzt um einen viel ergebnisoffeneren Ansatz. Vorher gab es feste Grundannahmen, an denen man die Unternehmensziele ausrichtete. Das ist vorbei. Ausprobieren ist jetzt das neue Planen.

Sie sind Ungewissheitsexpertin – wieso interessiert Sie gerade diese so?

Ich bin ohne Schilddrüse geboren worden; lange war völlig unklar, ob ich wachsen würde, überhaupt zur Schule gehen könnte. Es gab, als ich klein war, keine Erwartungen an mich, ich lebte in einer Art Vakuum. Nach dem Studium bin ich als alleinerziehende Mutter nach Asien gezogen, die Leute fanden das mutig, und ich habe gar nicht verstanden, wieso. Ich habe mich mit der Unsicherheit verbündet. Später habe ich Firmen im Umgang mit ostasiatischen Geschäftspartnern gecoacht und gemerkt: Es geht dabei gar nicht darum, das Fremde zu lernen, sondern das andere, Ungewisse auszuhalten.

Warum ist Ungewissheit ein so schwieriges Gefühl?

Ungewissheit ist kein Gefühl, es ist ein Zustand. Fühlen kann man nur Unsicherheit. Aber man kann Sicherheit im Ungewissen schaffen. Und genau darum geht es jetzt.

Rike Pätzold, 38, lebt mit ihrer Familie in München, coacht Unternehmen und Führungskräfte und promoviert gerade in Philosophie und Ästhetik an der Kunsthochschule Bonn. Drei Jahre hat sie auf einem Segelboot gelebt, zwei Mal den Atlantik überquert. Ungewissheit ist ihr Lebensthema.

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