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Weltreise: Aussteiger auf Zeit

Von einer Weltreise träumen ist leicht. Aber wie fühlt es sich an, wirklich die Kündigung auf den Tisch zu legen und auf Weltreise zu gehen? Nele Justus hat's getan und schreibt über die ersten 100 Tage.

Nele Justus hat ihren Job gekündigt, um mit ihrem Freund Michael auf Weltreise zu gehen. Im April haben sie die Rucksäcke gepackt und sind seitdem durch Indien, Nepal, China und Vietnam gereist. <ahref="/liebe-sex/persoenlichkeit/kuendigung-wirtschaftskrise-1027481/">Lesen Sie hier, wie es zu dieser mutigen Entscheidung kam

Am Flughafen kullerten die Tränen. Was habe ich bloß getan? Job gekündigt, Wohnung untervermietet, und das alles für den Traum von der weiten Welt, von Freiheit, Freizeit und Zweisamkeit. War hier irgendwo eine Notbremse?

Weltreise: Die ersten hundert Tage

"Genieß jeden Tag", flüsterte mir eine Freundin ins Ohr und schob mich Richtung Passkontrolle. Wie einfach das klang. Das Kino in meinem Kopf zeigte andere Bilder: Mein Freund und ich im Trennungsstreit im Himalaya; ich am Straßenrand, zerschunden und ausgeraubt; nach der Rückkehr ein anstrengendes Beratungsgespräch beim Arbeitsamt. Der Kloß im Hals wurde größer. Ein letztes Winken. Ein Küsschen in die Runde. Dann machten wir uns auf zu Gate 83 am Hamburger Flughafen. Das erste Ziel der Reise: Delhi.

"Ist doch ganz hübsch hier", dachte ich, als wir um vier Uhr morgens in Indien ankamen. Freunde hatten mich vor einem Kulturschock gewarnt. Hatten Delhi als dreckigen, stinkenden Moloch beschrieben.

Zwölf Stunden später, nach der ersten Sightseeing-Runde und einem Chicken Curry, wusste ich, wovon sie sprachen. Mit rebellierendem Magen streckte ich mich auf meiner Matratze aus. "Auf was habe ich mich da eingelassen?", war mein letzter Gedanke. Dann schlief ich ein.

Der nächsten Morgen stimmte mich versöhnlich: Zum Frühstück gab es Milchkaffee, Brot mit Nutella, blauen Himmel und Sonnenschein. Das nahm ich als gutes Omen. Und die folgenden Tage zeigten sich von ihrer besten Seite: Sie waren aufregend, hektisch, prall von neuen Eindrücken - und sie ließen keine Sekunde Zeit für trübe Gedanken.

In Delhi wanderten wir durch die engen Straßen der Altstadt und versuchten dabei, uns nicht überfahren zu lassen. In Agra waren wir neben dem Taj Mahal die zweite Attraktion und posierten geduldig mit immer neuen Menschentrauben fürs Familienalbum. Im Zug nach Jaipur lernten wir von unserem Sitznachbarn, wie man ordentlich isst - mit der rechten Hand natürlich und nicht mit Messer und Gabel. Und dass man die Frage, ob man verheiratet ist, immer mit "Ja" beantwortet. Es sei denn, man hat ausreichend Zeit für eine langwierige Diskussion über die Ehe, die Familie und die Gesellschaft an sich.

Stehen bleiben. Manchmal musste ich bei all der Hektik, dem Lärm und dem Chaos kurz innehalten - nur, um mir selber zu sagen: "Das ist alles nur der Anfang!" Zehn Monate hatten wir eingeplant, um einmal um die Welt zu reisen. Zehn Monate, um all die Orte zu sehen, von denen wir schon immer geträumt hatten. Um Zeit für uns zu haben - und um der Finanzkrise zu entfliehen.

Mein Freund Michael hatte Anfang des Jahres seinen Job verloren. Seine Firma war an einen internationalen Investor verkauft worden, der sofort einen Teil der Belegschaft entlassen hatte. Statt mitten in der Krise auf Arbeitssuche zu gehen, entschieden wir uns für eine gemeinsame Auszeit. Ich kündigte meinen Job, einen unbefristeten, der mir bis dahin immer viel Spaß gemacht hatte.

Aber Sicherheit und ein festes Einkommen konnten nicht mithalten mit der Perspektive von Abenteuer, Freiheit und Selbstbestimmtheit. "Das ist unsere Chance", haben unsere Köpfe und Bäuche uns zugerufen. "Vielleicht die letzte vor Familienplanung und Wohnungskauf." In wenigen Wochen hatten wir unser altes Leben in Umzugskartons und einen Stapel Klamotten in zwei Rucksäcke gepackt.

Unterwegs: Wir hatten angefangen, unsere Träume zu leben. Und trotzdem fiel es mir schwer, mich in mein neues Leben fallen zu lassen. Mein Kopf und mein Herz waren noch in der Heimat. Bei dem Internet-Projekt, an dem ich bis zuletzt gearbeitet hatte; bei der Steuererklärung, die ich auf den letzten Drücker abgegeben hatte; bei all den Dingen, die mich nach der Reise erwarten würden und die mir schon jetzt Angst einjagten. Was wird ein Personaler zu meiner Entscheidung sagen? Wird er meine Bewerbung direkt als erste aussortieren? Wie lange reicht mein Geld, wenn ich keinen Job finde? Werden wir nach zehn Monaten überhaupt wieder im gewohnten Alltag klarkommen oder uns an Kleinigkeiten aufreiben?

Dann, auf 4.000 Metern Höhe, genoss ich zum ersten Mal die neue Freiheit. Zehn Tage waren wir in Nepal, im Himalaya gewandert - durch Bauerndörfer, vorbei an Rhododendren-Wäldern, entlang eines ausgetrockneten Flussbettes. Gerade hatten wir uns mit unserem Gepäck die letzten Meter des Treks hoch gequält. Waren noch ganz außer Atem von dem steilen Aufstieg und der dünnen Luft. Aber wir wurden belohnt: Vor uns lag die weiße Spitze des Annapurnas, neben uns flatterten bunte Gebetsflaggen in einem Tempel. "Schöner kann es nicht mehr werden", habe ich mir in diesem Moment gedacht, und mein Herz fing vor Freude an zu blubbern.

Seitdem blubbert mein Herz fast jeden Tag und ich freue mich über all die kleinen und großen Abenteuer, die wir erleben. Die letzten Tage habe ich tauchen gelernt, habe Dinge gegessen, von denen ich nur erahnen kann, was sie waren, und habe die ersten drei Sätze Vietnamesisch gelernt ("Nein Danke, ich gehe zu Fuß", "Kann ich eine Flasche Wasser haben?", "Ich fahre zum Strand").

Unsere Reiseplanung haben wir vor sechs Wochen weggeworfen, weil immer etwas dazwischen kam. Ein schöner Ort, ein schlechtes Essen, nette Leute. Nun überlegen wir nur noch, was wir auf gar keinen Fall verpassen wollen, und lassen den Rest auf uns zukommen.

Meiner Freundin habe ich übrigens letztens eine Karte geschrieben. Darauf steht: "Ich genieße jeden Tag." So darf es gerne bleiben. Für die Reise, für die Rückkehr, für immer.

Indien, China, Nepal: Die schönsten Bilder der ersten 100 Tage sehen Sie hier.

Text &amp; Fotos: Nele Justus

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