Zweijährige überschlagen sich auf dem Dreirad, Omas machen Bauchklatscher in den Gartenpool, David Hasselhoff mampft sturzbetrunken einen Hamburger: Missgeschicke wie diese sind bei YouTube, MyVideo oder in der TV-Show "Pleiten, Pech und Pannen" zu sehen. Tag für Tag ergötzen sich Menschen an den Clips. Offenbar besteht ein unstillbares Bedürfnis danach, Normalsterbliche vom Stuhl und Promis von der Karriereleiter stürzen zu sehen.
Verständlich wird die Begeisterung für das Unglück anderer, wenn wir uns klar machen, dass es hier nicht um irgendwelche Witzigkeiten geht, sondern um etwas Existenzielles, nämlich unser wichtigstes psychisches Grundbedürfnis - das wir meist nur dann wahrnehmen, wenn wir es verlieren: die Kontrolle. Sie zu bewahren kostet uns viel Konzentration und Kraft. Denn weil Kontrollverluste so peinlich und darum beängstigend sind, wachen wir unbewusst ununterbrochen darüber, uns nur keine Blöße zu geben.
Und genießen es umso mehr, wenn Mitmenschen zustößt, was wir selbst um jeden Preis vermeiden wollen: Die anderen legen sich auf die Fresse. Aber wir bleiben heil und sicher. Unsere Anspannung entlädt sich in einem gemeinen, befreienden Lachen: Die Schadenfreude ist ein kleines Fest für die Seele.
Die Kontrolle zu verlieren - dieses Gefühl ist für uns so bedrohlich wie die Angst, zu fallen. Vielleicht weil unsere Ahnen einst auf Bäumen schliefen und die Panik vor dem Sturz aus der Baumkrone noch tief in unseren Genen schlummert. Trennungen sind unerträglich, weil wir uns hilflos ausgeliefert fühlen, Süchte und Abhängigkeiten gefährlich, weil uns alles zu entgleiten droht. Ein totaler Kontrollverlust schlägt sich als Trauma in unserer Psyche nieder.
Doch gleichzeitig gehört es zu unseren größten Lustquellen, uns fallen zu lassen. Von der Arschbombe im Freibad über die Achterbahnfahrt bis zum Orgasmus: Wir haben eine tiefe Sehnsucht danach, die Kontrolle aufzugeben. Wir wollen uns verlieben, entspannen und hingeben.
Die Konsequenz, die aus diesen beiden konträren Bedürfnissen entsteht: Jeder von uns lebt in einer Zwei-Zonen- Welt. In der öffentlichen Zone achten wir darauf, gut gekleidet zu sein, unsere Gefühle zu zügeln, gutes Benehmen zu zeigen. Im Familienkreis, mit Freunden und Liebhabern sind wir weit weniger kontrolliert: Wir laufen mit fettigen Haaren herum, weinen oder schreien vor Wut und lassen dreckige Unterwäsche auf dem Schlafzimmerfußboden liegen. Manchmal lassen wir uns sogar gehen. Das ist die Zone der Intimität. Oder besser: Sie war es.
Denn die gefräßige Anteilnahme am Leben der anderen, der neugierige Blick hinter die Fassaden wird von den Medien immer intensiver bedient. Die Teleobjektive der Paparazzi, die Videohandys von Zufallsreportern oder falschen Freunden suchen ständig nach Rissen in jener Fassade, die den makellosen öffentlichen Star vom ganz normalen, ungeschminkten Privatmenschen trennt.
Haben sie einen Riss entdeckt, dauert es inzwischen nur noch wenige Stunden, bis sie der Welt ihre Entdeckung im Internet präsentieren: den Fußballer Ronaldo als angeblichen Transvestiten-Freier, Kate Moss oder Ronald Schill beim Koksen, Jack Nicholson in Badehose oder die in Heimpornos herumturnende Paris Hilton.
Doch während es früher fast ausschließlich Prominente waren, die allzeit auf der Hut sein mussten, um nicht entzaubert zu werden, ist die öffentliche Zurschaustellung intimster Informationen längst zur Waffe zwischen Privatpersonen geworden: Teenies veröffentlichen im Internet Videos sturzbetrunkener, sich übergebender Klassenkameraden, Schüler ziehen über Lehrer her, der verschmähte Liebhaber stellt heimlich gedrehte Privatpornos ins Netz.
In den USA ist angeblich bereits jedes dritte Kind Opfer von Cyber-Mobbing. Und eine Tricia Walsh Smith hat bewiesen, dass der virtuelle Schmuddelkrieg längst in allen Altersgruppen und Schichten geführt wird: Sie ist die wohl erste Upperclass-Gattin, die ihren steinreichen Gatten im Scheidungskrieg unter Druck zu setzen versucht, indem sie auf Youtube über seine Potenzprobleme plaudert. Der Feind wird verwundet, wo er am verletzlichsten ist: in seiner Würde.
Intimes Wissen über den anderen bedeutet, Macht über ihn zu haben, das haben auch Arbeitgeber entdeckt: Nicht nur Lidl, Schlecker, Penny und Co - jeder Mittelständler kann mit mittlerweile preiswerten Videosystemen seine Mitarbeiter bespitzeln und unter Druck setzen. Jeder dritte Bürocomputer wird kontrolliert. Die Zeiten, in denen Vertrauen eine Alternative zur Kontrolle war, sind vorbei. Selbst dann, wenn wir unserem Chef keinen Anlass zur Abmahnung bieten, bleibt ein Gefühl der Schutzlosigkeit: Wer sich hinter der Tür zu den Personalräumen am Po kratzt oder in der Nase bohrt, will dabei nicht von einer geheimen Kamera und den Augen dahinter beobachtet werden.
Die Zone der Intimität ist jene Zone unseres Lebens, die andere nur auf unsere persönliche Einladung hin betreten dürfen. Wer darin herumspioniert, ohne dass wir ihm die Tür geöffnet haben, beraubt uns unserer Selbstbestimmung - und hinterlässt in unserer Seele die gleichen Spuren wie ein Einbruch in unser Zuhause: Plötzlich fühlen wir uns Mächten und Mitmenschen wehrlos ausgeliefert. Wir verlieren die Sicherheit, geschützt zu sein.
Wir verlieren unsere Würde. Wenn wir uns nicht wehren können und unsere Wut ins Leere läuft, verzweifeln und resignieren wir. Vielleicht verlieren wir am Ende tatsächlich die Kontrolle über unser Leben, wie die dauerverfolgte Britney Spears oder der Fußballer Ronaldo, den alle Welt erst bei einem Treffen mit Prostituierten und dann beim Zusammenbruch seines Lebens beobachten konnte. "Es ist so, als ob ich ein Haus gebaut habe", beschrieb der offenbar zu Unrecht verdächtigte Ronaldo seinen Zustand, "und es dann von einem schweren Orkan zerstört worden ist."
Obwohl inzwischen hinlänglich bekannt ist, dass private Informationen zum Sprengstoff werden können, der unser Leben, unsere Liebe, unsere Karrierepläne zur Hölle jagt, wenn sie unfreiwillig in die falschen Hände geraten, geben immer mehr Menschen immer mehr persönliche Details von sich einem anonymen Publikum preis - freiwillig. 400 Millionen Menschen nutzen heutzutage soziale Online- Netzwerke wie Facebook, StudiVZ oder MySpace. Sie alle vertrauen darauf, dass nur diejenigen virtuellen "Freunde" Zugang zu ihren Daten erhalten, denen dieser Zugang gewährt wird. Und sie ignorieren, dass es für jeden x-beliebigen Experten ein Kinderspiel ist, ihre Zone der Intimität zu knacken.
Nachdem die Beinahe-Bruchlandung einer Lufthansa-Pilotin von einem Hamburger Planespotter gefilmt und online gestellt worden war, forschte die "Bild" im Internet. Die Redaktion wurde fündig und präsentierte ihrem Millionenpublikum die "schöne Pilotin" und "ihr trauriges Geheimnis" samt Privatfotos - auf der Titelseite.
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Andere Menschen wiederum verzichten selbst auf die Pseudo-Sicherheiten der sozialen Netzwerke: Sie präsentieren ihr Innenleben in Blogs und auf persönlichen Homepages. Mit dem Versprechen, in den Olymp der Models und Popstars aufzusteigen, lassen sie sich beim Heulkrampf filmen. Ihnen ist nicht klar, dass sie keine Chance haben, ein Star zu werden.
Wer öffentlich sabbert, jammert, flucht und sich von Heidi Klum und ihren Hilfssadisten kleinmachen lässt, den umgibt kein Geheimnis mehr, der eignet sich nicht als Projektionsfläche für die Träume der Menschen. Und wer im Internet als 17-Jähriger verbreitet, auf große Brüste und Chillen statt Arbeiten zu stehen, vergisst, dass außer den Mädels aus der Schule vielleicht auch der erste Arbeitgeber mitliest. Jeder dritte Personalchef googelt seine Bewerber.
Wie das ungeschützte Private gegen uns verwendet werden kann, erlebte die Bürgermeisterin eines amerikanischen Nestes namens Arlington. Ihre politischen Gegner nutzten ein Foto, das arglos von einer Kusine der Amtsinhaberin ins Netz gestellt worden war; es zeigte sie in Unterwäsche und wurde Grundlage einer Kampagne, durch die sie gestürzt wurde.
All diese Menschen erliegen dem Reiz der Selbstdarstellung, weil er ihrer Eitelkeit schmeichelt und das Selbstwertgefühl steigert. Sie täuschen sich. Die mediale Öffentlichkeit ist eine schillernde Verführerin, die außer Neugier nichts zu bieten hat - weder Geborgenheit noch Anerkennung. Aber sie bringt uns dazu, die Grenzen zwischen innen und außen aufzulösen. Der Soziologe Richard Sennett beschrieb bereits in den 70er Jahren "Die Tyrannei der Intimität". Nähe herzustellen, sich persönlich und offen zu zeigen, ist demnach immer mehr ein zentraler Wert unserer Kultur geworden.
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Wir werden lernen müssen, uns zu schützen, unseren intimen Raum zu verteidigen. Es wird uns nicht immer gelingen. Und wie virtuell und abgefahren die schöne neue Welt der nächsten Jahre auch immer aussehen mag - unsere Reaktionen bleiben die gleichen wie damals vor der Höhle beim Mammutbraten.
Wir werden durch die Gefühlskaskaden von Scham, Wut, Verzweiflung, Hass und Resignation gehen, uns hilflos fühlen. Und dann werden wir so lange unsere Gefühle ausdrücken, mit wirklichen Freunden reden, Therapeuten bezahlen, Gedanken zu ordnen und Fantasien heranzuziehen, bis wir endlich wieder das Gefühl verspüren, das uns so wichtig ist: Kontrolle über uns selbst zu haben.