Oft stehen sie nicht in der ersten Reihe, dafür stehen sie hinter uns. Sie sind da, wenn wir zum ersten Mal allein Kaugummi am Kiosk kaufen, wenn wir herausfinden wollen, ob der Typ aus der 10 b sich für uns interessiert oder wie sich vom WG-Tisch aus die Welt verbessern lässt. Sie stoßen mit uns auf Erfolge an und holen uns aus dem Tief, wenn das erwachsene Kind die Koffer packt: Freundinnen und Freunde.
Freundschaft ist ein zeit- und kulturübergreifendes Phänomen, und eine psychologische Lebensversicherung. Nach Studienlage können tiefe Beziehungen Gesundheitsrisiken ausgleichen, lassen uns länger leben, helfen, Stress zu reduzieren. Vermutlich war das schon bei unseren Steinzeit-Vorfahren so. Cornelia Wrzus, Professorin für psychologische Alternsforschung an der Universität Heidelberg, spricht vom "Paradox der Freundschaft". Ginge es dem Homo sapiens nur darum, sich zu schützen und seine Gene weiterzugeben, bräuchte er keine zusätzlichen Seelen-Gefährten. Aber: "Im Gegensatz zu Verwandtschaft kann man sich Freundschaften aussuchen, deshalb sind sie meist positiv besetzt und tragen so zum guten Leben bei."
Die meisten Menschen bringen es auf zehn bis zwölf Freund:innen, unabhängig davon, ob sie eher introvertiert oder extrovertiert sind – nur, dass die einen eher Einzelbeziehungen pflegen, andere sich dagegen in der Clique wohlfühlen. Ob Freunde für uns eine Haupt- oder Nebenrolle spielen, hängt auch davon ab, wo wir sonst gerade im Leben stehen. Ob gebunden oder nicht, mit Familie oder ohne, mobil oder verwurzelt. Trotzdem gibt es Muster, die bei allen ähnlich sind.
Kindheit: Schönwetterfreundschaften und Gruppendruck
Andrea, 53, ist in einem Dorf in Niedersachsen aufgewachsen. Typischer Satz für Kinder in den Siebzigern: "Geht raus, spielen." Keine komplizierten Verabredungen zu Playdates, viel Natur. Dennoch hat Andrea gemischte Gefühle, wenn sie an früher denkt: "Dorfkindheit, das klingt nach Bullerbü und einer Schar Kinder, die frei um die Häuser zieht. Aber es gab auch klare Hierarchien und Hackordnungen."
Kita- und Grundschuljahre sind ein Übungsfeld für soziale Beziehungen, mit Zusammenhalt einerseits und Gruppendruck andererseits, spontaner Begeisterung und schneller Enttäuschung. Cornelia Wrzus spricht von "Schönwetterfreundschaften“: Man tut sich schnell mit denen zusammen, die greifbar sind, der Banknachbarin, dem Nachbarskind. Und tröstet sich genauso schnell darüber hinweg, wenn der Kontakt abbricht. Auch emotional sind Kinderfreundschaften unbeständig: Zwischen Innigkeit und "du bist nicht mehr meine Freundin" liegt oft nur ein Streit um ein Spielzeug.
Werden Kinder größer, werden ihre Freundschaften oft exklusiver. Für Andrea fühlt sich das wie eine Befreiung an: Mit zehn, auf dem Gymnasium in der nahen Kreisstadt, hat sie zum ersten Mal eine beste, eine Herzensfreundin. Für die ist sie nicht in erster Linie Tochter ihrer Eltern oder die ewig jüngere Schwester. Sondern einfach sie selbst.
An der Schwelle zur Pubertät sind enge Mädchenfreundschaften oft eine Frage von Spiegelung, von Bestätigung. "Ich könnte gar nicht sagen, dass wir besondere gemeinsame Interessen hatten. Eher ein wortloses Gefühl von Verbundenheit, und sei es, dass man über die gleichen Witze lacht", erinnert sich Andrea.
Teenagerzeit: Neue Vertraute, neue Klippen
Ute, 45, wächst nicht so ländlich auf wie Andrea, sondern in einer Kleinstadt im Münchner Speckgürtel. Nach der Grundschule wird ihre Welt schlagartig größer, nun bewegt sie sich zwischen zwei Freundschaftswelten. Zu Hause in altvertrauten Kreisen, auf der neuen Schule in München in einer Clique, die sie cooler und weltgewandter findet: heimlich rauchen! In der Pause zu den Jungs von der Hauptschule rüber! Gleichzeitig bleiben alte Kontakte ein fester Anker.
Für die Ablösung vom Elternhaus spielen Freund:innen eine entscheidende Rolle. Teenager stufen in dieser Lebensphase ihre Freundschaften oft höher ein als familiäre Beziehungen. Es scheint, dass die verlässliche Clique sogar den Traum von romantischer Liebe als Glücksbringer auf die hinteren Plätze verweist: Auf die Frage, wie wichtig eine Partnerschaft für ein erfülltes Leben sei, antworten immer weniger 17-Jährige mit einem absoluten Ja. Ihr Motto: Verliebtheit kommt und geht, Freundschaft besteht. Gleichzeitig sind Teenager-Freundschaften auch ein Übungsfeld für Partnerschaften. Langzeitstudien zeigen, dass die Qualität von Freundschaften in der Jugend in direktem Zusammenhang mit lang anhaltenden Liebesbeziehungen im späteren Leben steht.
Gibt es einen Geschlechtsunterschied? Die Wissenschaft scheint das Klischee zu bestätigen: Während Mädchen sich eher über Gefühle austauschen, viel reden, setzen Jungs auf gemeinsame Aktivitäten. Zusammen durchlebte Herausforderungen schweißen zusätzlich zusammen: die Mathe-Prüfung, die Nervosität vor dem ersten Date. In Gesellschaft vertrauter Personen produziert unser Körper Oxytocin und puffert damit das Stresshormon Cortisol.
Ute hat das auf die harte Tour erlebt, das macht ihre Geschichte so eindrücklich. Denn mit 16 verliert sie ihre Mutter. Aber statt sich in ihrer Trauer zurückzuziehen auf die engste Familie, den Vater, die Schwester, werden die Wahlverwandtschaften so wichtig wie nie. "Wenn ich an den Sommer nach dem Tod meiner Mutter denke, ist da neben dem Schmerz auch das Gefühl von Freiheit. Meine Clique hat mich aufgefangen, besonders eine Freundin, die für mich da war. Nicht nur zum Reden, sie nahm mich auch überall hin mit, auf Motorradtouren, an den See, zum Feiern, zum Chillen zu Hause." Ute muss schnell erwachsen werden, ihre Clique macht das Schwere leichter.
Junge Erwachsene: Gemeinsame Interessen, getrennte Wege
Aufbruchsstimmung, hinein ins Leben, mit Freund:innen als tragendem Beziehungsnetz – so beginnt das Erwachsenenleben bei vielen. Die entscheidende Weggabelung kommt später: mit Partnerschaft, Heirat, Kindern. Ob mit Anfang 20, Ende 30 oder gar nicht – auf einmal bewohnen Frauen verschiedene Parallelwelten. Und wenn hier der Zeitkuchen kleiner wird zwischen Kinder zur Kita bringen, Großeltern besuchen und Kindergeburtstage vorbereiten, während dort die alte Freundin einem ganz anderen Lebensentwurf nachgeht, kommt es leicht zur Schieflage.
Antje, 47, lebt als TV-Journalistin, Bloggerin und Krimi-Autorin in Köln, ist meistens Single und hat keine Kinder. Keine Grundsatzentscheidung, sondern weil sie lieber ohne Mann ist, als faule Kompromisse zu machen – und auch nicht um jeden Preis Mutter werden wollte. Manche befremdet das. "Ich glaube, ich war Kölns bestgebuchte Babysitterin", erinnert sich Antje an ihre Dreißiger," und ich habe das gern gemacht. Aber wenn ich eine Freundin nach fünfmal Kinderbespaßung gefragt habe, wann wir mal wieder zusammen ausgehen, hieß es oft: Setz mich nicht so unter Druck!" Gebundene beäugten sie gelegentlich misstrauisch, manche glaubten, sie habe Interesse an ihrem Partner – schon wenn sie sich auf einer Einweihungsparty kurz mit einem verheirateten Mann unterhielt.
"Ich habe noch nie verstanden, warum Frauen sich in diese Konkurrenz treiben lassen", sagt Antje, "und hatte oft den Eindruck, dass gerade die, die in unglücklichen Beziehungen steckten, mir suggerierten, ich müsse als Single unglücklich sein. Dass in meinem Leben die entscheidenden Dinge fehlen würden." Neid auf berufliche Erfolge, Ängste, Rivalität sind Bewährungsproben, die nicht jede Freundschaft überlebt. Eine zerbricht an einem Satz, geäußert vor einer Pärchenparty: "Du kannst auch kommen, du störst nicht."
Eine niederländische Studie aus den Niederlanden belegt: Enden Freundschaften, liegt es meist daran, dass sie als einseitig empfunden werden. Das schmerzt, auch Singles, die mit sich so im Reinen sind wie Antje. Weil sie sich in die zweite Reihe gestellt fühlen, solange Kinder, Mann und Familie Priorität haben. Häufige Konsequenz: Man tut sich mit neuen Lebensabschnitts-Freund:innen zusammen, die ähnliche Themen, einen ähnlichen Alltag und ähnliche Vorstellungen davon haben, wie viel Raum man im Leben der anderen einnehmen will und kann.
"Wenn Menschen heiraten oder Kinder bekommen, reduziert sich im Durchschnitt die Zahl der Freundschaften", bestätigt Cornelia Wrzus. Allerdings werden die Netzwerke bei allen Menschen Ende 20, Anfang 30 kleiner, unabhängig vom Beziehungsstatus, und häufig auch, weil der Beruf nicht mehr so viel Luft lässt. Klingt traurig, aber bei genauem Hinsehen ist es das gar nicht. Ein Forschungsteam von der University of Rochester und der City University of New York kam in einer aktuellen Langzeitstudie zu einem erstaunlichen Befund: Die Menge sozialer Kontakte mit 20 plus die Qualität der Freundschaften mit Anfang 30 sagt zuverlässig voraus, wie es uns im mittleren Alter gehen wird. Ob wir mit 50 psychisch gesund sind, gut integriert und stabil. Erst ein Netz aufbauen, dann auf Belastbarkeit testen – eine sichere Strategie.
Ab 40: Zeit fürs Wesentliche
In den späten Dreißigern, frühen Vierzigern spitzt sich die Auslese weiter zu, und das liegt nicht nur an der viel beschriebenen Rushhour des Lebens. "Menschen werden wählerischer, wenn sie das Gefühl haben, dass sie keine Zeit mehr verschwenden wollen. Sie fokussieren sich auf die Beziehungen, die ihnen guttun, und lassen die anderen einschlafen“, sagt Wrzus. Sei es, weil man bei emotional aufgeladenen Themen feststellt, dass man doch unterschiedlicher tickt, als man dachte, sei es, weil man sich nach tieferem Austausch sehnt. Bei Antje klingt das so: "Ich achte heute mehr auf Sein als auf Schein, pflege ein Bündel von Freundschaften, die sich alle durch Verlässlichkeit und durch Herzenswärme auszeichnen. Aber ich überfrachte diese Beziehungen auch nicht mehr durch zu viele Erwartungen."
Utes Ansprüche sind ebenfalls andere als früher. "Ich habe keine Lust mehr auf Oberflächlichkeiten und Party-Small-Talk. Mein Mann und ich, wir sind uns einig, dass wir nur noch Freundschaften pflegen, die uns eine echte Connection geben, ehrlich und tief sind.“ Manche sind neu, andere geblieben. Nicht unbedingt die ältesten, obwohl Ute fast ihr ganzes Leben am gleichen Ort verbracht hat. Eher die aus Lebensphasen, die sie weitergebracht haben. Allen voran: ihre "Unimädels", vier Weggefährtinnen seit dem ersten Semester. Seit über 20 Jahren kennen sich die vier Frauen, haben sich gegenseitig zu Hochzeiten und Geburten beglückwünscht, sich gegenseitig aufgefangen, als eine von ihnen schwer erkrankte und bei einer anderen die Ehe zerbrach.
Im Umkehrschluss heißt das nicht, dass wir ab 40 oder 50 die Begabung für neue Freundschaften verlieren. Es kann sehr befreiend sein, aus eingefahrenen Bahnen auszubrechen, auch über neue Bekanntschaften, die uns inspirieren. Jenseits von Mütterzirkeln und After-Work-Stammtisch. So erzählt es Andrea: "Seit meine Kinder groß sind, lerne ich wieder mehr Menschen kennen, mit denen ich ganz andere Anknüpfungspunkte habe." Vor einiger Zeit hat sie sich einer Rudergruppe angeschlossen.
Beziehungen pflegen – und zwar in jeder Altersklasse
Es lohnt sich also, den Freundschaftsmuskel immer wieder neu zu trainieren – in jedem Alter. Psychologie-Professorin Cornelia Wrzus erklärt: "Während Freundschaften in jüngeren Jahren zwar emotional wichtig, oft aber auch zweckdienlich sind, sei es als Job-Netzwerk oder Unterstützung bei Alltagsproblemen, steht mit zunehmendem Alter die emotionale Verbundenheit fast allein im Fokus."
Unsere tiefen Verbindungen werden also eher noch wichtiger, wenn wir die 50, die 60 uns 70 hinter uns haben. Etwa wenn Umbrüche zu bewältigen sind, Kinder aus dem Haus gehen, die Berufstätigkeit endet, Lebensgefährt:innen krank werden oder sterben. Umso besser, dann Freund:innen zu haben, die hinter uns stehen. Oder schon immer in der ersten Reihe.