Ihre These, Frauen seien "sexuelle Allesfresser", ist ein überraschendes Bild, das man bisher eher Männern zuschreibt. Dann sind Frauen gar nicht monogam angelegt?
Daniel Bergner: Das ist ein Klischee, das Kultur und Gesellschaft über die Jahrhunderte gepflegt und aufgebaut haben. Frauen gelten gemeinhin als monogames Geschlecht, ein wissenschaftlich fundierter Beweis findet sich dafür allerdings nicht. Stattdessen gab es in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren zahlreiche Studien von Wissenschaftlerinnen wie die der kanadischen Forscherin Meredith Chivers, die belegen, dass Frauen genauso oft und ausschweifend an Sex denken wie Männer.
Warum scheitern dann so viele langjährige Beziehungen am fehlenden Sex?
Sie scheitern ja nicht unbedingt an mangelnder Lust - die haben Frauen im Prinzip sogar mehr als Männer. Das Problem ist vielmehr, dass das Verlangen bei Frauen nach dem eigenen Partner schneller verschwindet als bei Männern. Lange wurde das auf hormonelle Veränderungen geschoben, aber nein, Frauen langweilen sich einfach schneller.
Und wenn sie sich dann nach etwas Neuem Umschauen? Ließe Sex außerhalb der Beziehung Lust und Leidenschaft wieder aufflammen?
Absolut. Sobald ein neuer Partner, ein Flirt oder ein One-Night-Stand auf der Bildfläche auftaucht, ist die Lust schlagartig wieder da. Ein neuer Reiz triumphiert über Hormone.
Aber nicht über Emotionen: Frauen haben oft den Eindruck, dass Sex in Nichtbeziehungen weniger bedeutet, und sind verletzt.
Weil Frauen emotionaler an diese Dinge herangehen. Damit meine ich nicht, dass sie von Natur aus emotionaler sind! Hier kommen wieder lange gepflegte Klischees ins Spiel. Mädchen und Jungs werden von klein auf anders erzogen, wenn es um Gefühle, Sex oder Beziehungen geht. Jungs dürfen offener fantasieren und sich sexuell austoben, Mädchen werden eher behütet und mit negativem Vokabular auf Sex vorbereitet. Es ist ein gesellschaftliches Konstrukt: Männern "darf" Sex weniger bedeuten, Frauen nicht. Sie sollen emotionalen und treuen Pfeiler der Beziehung sein.
Kein Wunder also, dass sie sich durch Sex offensichtlich leichter verlieben?
Kulturell gesehen sollen sie das ja. Selbst in unserer recht liberalen Gesellschaft wird Mädchen früh klargemacht, dass Sex der Beginn einer monogamen Beziehung, der Ehe und von Kindern ist. Das ist das Ziel, nicht die Lust. Die darf hintangestellt werden, es gibt Wichtigeres zu erledigen. Die gängige Wortwahl zum Thema Sex bringt es auf den Punkt: Bei Männern ist vom "Drang" die Rede, bei Frauen fällt häufig das Wort "Interesse". Wo bitte steckt da die Lust?
Suchen sich Frauen demnach auch für schnellen Sex einen potenziellen Beziehungspartner aus?
Das liegt nahe, weil ihnen immer das Ideal Ehe oder zumindest feste Beziehung eingeredet wurde. Die Sittenpolizei ist in weiblichen Köpfen stärker ausgeprägt, weil das offene Ausleben der Lust von der Gesellschaft als unzüchtig abgestempelt wird. Forschungen ergaben allerdings, dass Frauen wesentlich freizügiger und lustvoller denken, sobald sie sich nicht beobachtet fühlen. Tests, bei denen ihre Identität bekannt ist, fallen um einiges harmloser aus, als wenn sie anonym ausgefüllt werden.
Frauen sind also ungehemmter, wenn sie sich von der Gesellschaft unbeobachtet und nicht angreifbar fühlen?
So geht das aus den Studien hervor. Männern war es egal, offen zu sagen, wie viele Sexpartnerinnen sie bereits hatten oder welche Fantasien sie gern ausleben würden. Bei Frauen stiegen die Zahlen erst, wenn die Namen verdeckt wurden. Sobald die Rollenmuster aufgelöst wurden, kamen sich die Ergebnisse bei den Geschlechtern erstaunlich nahe.
Würden Frauen ihre Lust so aggressiv ausleben, wie Sie das beschreiben, wäre das ein ziemlicher Schock für das Konzept der monogamen Beziehung.
Das stimmt. Allerdings muss man eine Unterscheidung beachten: Der Mensch ist sexuell nicht monogam angelegt - emotional schon. Wir müssen mit dem Paradox leben, dass wir Liebe und Vertrautheit wollen, uns aber gleichzeitig nach Leidenschaft und Ekstase sehnen. Doch Nähe und Lust gehen nicht zusammen, eines davon bleibt auf der Strecke .
Lässt sich dieses Paradox lösen?
Ich denke schon, aber oft nur mit Kompromissen. Paare sollten sich ihre Wünsche so offen wie möglich erzählen. Der Partner ahnt selten, welche Leidenschaft noch im anderen brennt. Das herauszufinden kann bereits ein neuer Kick sein.