Anzeige
Anzeige

Tinder-Shaming Warum es gar nicht peinlich ist, sich über eine App kennenzulernen

Tinder-Shaming: Warum es gar nicht peinlich ist, sich über eine App kennenzulernen
© Getty Images
Auch 2020 werden Leute noch rot, wenn sie erzählen, wie sie sich kennengelernt haben und dabei das Wort "Tinder" fällt. Was für ein Quatsch, findet unsere Autorin.
von Viola Kaiser

Neulich bei uns in der Küche: Freunde, ein frisch verliebtes Paar, sind zu Besuch. Das sieben Jahre alte Kind fragt: "Seid ihr verliebt? Woher kennt ihr euch eigentlich?". Beide erröteten gleichzeitig. Und ich frage mich, warum eigentlich. Es geht nämlich nicht um die erste Frage, die vielleicht nicht geklärt ist und deswegen die beiden in Verlegenheit bringt. Es geht darum, dass sie sich nicht im Büro, auf einer Party oder über Freunde kennengelernt haben, sondern eben über eine Dating-App: Tinder.

Es muss nicht jede Beziehung wie in einer schlechten RomCom beginnen

Ich verstehe allerdings nicht, warum das Leuten noch immer ein bisschen peinlich ist. Ich verstehe dieses Tinder-Shaming auch gar nicht. Lernen sich nicht heutzutage etwa 98 Prozent aller Paare über irgendwelche Apps kennen? Ich sage da übrigens nicht etwa, weil ich ein Riesen-Tinderfan bin. Im Gegenteil, ich kenne mich damit überhaupt nicht aus, ich bin seit zehn Jahren verheiratet. Was zwar kein Grund sein muss, Dating-Apps nicht zu kennen, aber in meinem Fall einer ist. 

Mir ist auch völlig klar, dass viele Menschen, die tindern, nicht nur verheiratet sind, sondern auch sonst nur ein Abenteuer oder schnellen Sex suchen. Allerdings macht das in meinen Augen die Beziehung zwischen den Paaren, die sich bei Tinder verliebt haben, nicht schlechter als zum Beispiel die von Leuten, die sich beim Schlittschuhlaufen in New York trafen. Überhaupt gibt es keinerlei Regel, die sagt, dass ein Kennenlernen, das nicht wie einer schlechten US-RomCom aussieht, ein weniger optimaler Start für eine Liebe ist. 

Mal ganz abgesehen davon, dass das Swipen ja nur der Anfang vom Anfang ist. Danach kann natürlich noch die Liebe auf den ersten Blick folgen. Denn der passiert schließlich im "echten" Leben . Dort können noch Dates folgen, die viel besser sind als eins, das am Kopierer mit dem neuen Kollegen im Büro vereinbart wurde. Mal im Ernst: Treffen und kennenlernen müssen sich Leute, die Tinder auf dem Handy haben ja nun auch. Und manchmal arbeitet man eben in einem Büro voller Frauen, sucht aber einen Mann, hat Kinder zu Hause, die gehütet werden wollen, und findet im Supermarkt nur andere Einkäufer, die Klopapier und nicht die Liebe ihres Lebens suchen. Außerdem: Ist es nicht genauso Schicksal, wenn das Foto vom Traumtypen auf dem Display erscheint wie der echte Typ an der Käse- oder Bartheke?

Wer hat schon Bock drauf, in verqualmten Bars zu sitzen und zu hoffen, dass die große Liebe vorbeigeritten kommt?

Allein schon deshalb ist Tinder super und sollte nicht mit irgendeinem auch sonst meist eh unnötigen Gefühl wie Scham in Verbindung gebracht werden. Wer hat schon Bock drauf, in verqualmten Bars zu sitzen – was ja gerade auch eher schwierig bis total unmöglich ist – und zu hoffen, dass die große Liebe auf einem weißen Schimmel vorbeigeritten kommt? Dasselbe gilt für Supermärkte, Büros und Bushaltestellen. Das ist mal klar. Das Gute ist aktuell gerade vielleicht einfach, dass man, statt sich schnell zu treffen, erst einmal telefoniert, zoomt oder skypt, bevor man sich auf Abstand trifft und sich so möglicherweise besser kennenlernt, als es ohne Corona der Fall gewesen wäre. Gleichzeitig kann man Frösche auch einfach schneller rausfiltern und muss sie nicht unnötiger Weise erst küssen. 

Ich zumindest möchte all die Tinder-Geschichten hören, die guten und die schlechten. Ich kenne ohnehin mehr von den positiven. Übrigens: Dass ich meinen Mann ohne die Hilfe von irgendeiner App kennengelernt habe, liegt vermutlich nur daran, dass es die App damals noch gar nicht gab. Wenn es aber anders wäre, würde ich es jedem erzählen – mit Stolz anstatt mit Scham. 

Barbara

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel