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Traummänner auf der Ersatzbank

Der alte Schulfreund, die verflossene Liebe, der Nachbar, der schon jahrelang rüberlächelt - ein paar Traummänner haben wir alle in Reserve. Für irgendwann mal? Oder einfach nur fürs gute Gefühl ...

Meist sind es die Tage, an denen mein eigentlich bunter Alltag einfach nur grau wird: Der Mann sitzt autistisch am Computer, die Wohnung ist umgekippt, mein Sohn will zum zehnten Mal das gleiche Feuerwehrpuzzle machen. An solchen Durchschnittstagen wende ich manchmal den Kopf leicht nach hinten und sehe dort - abseits vom Spielfeld - meine drei Traummänner auf der Ersatzbank sitzen: Da ist Fabian mit seinen schwarzen Locken, der wilde Weltenbummler, meine erste große Liebe. Mit ihm würde ich jetzt wahrscheinlich in einem Segelboot durch die Südsee schippern und von Luft und Liebe leben. Neben ihm sitzt der große, jungenhafte Thomas, der mir jahrelang den Hof gemacht hat. Er war so uncool. Heute ist er im Vorstand eines Lebensmittelkonzerns. Mit ihm würde ich heute vor allem am Pool liegen und mir die Fingernägel lackieren. Und was mit dem dritten Kandidaten, diesem blonden Pete-Doherty-Verschnitt alles drin wäre, kann ich nicht einmal sagen. Ich sehe ihn zwar seit Jahren immer mal wieder in einer Bar, und wir werfen uns Blicke zu - geredet haben wir aber noch nie. Wenn ich mir seine sinnlichen Lippen ansehe, vermute ich allerdings: Mit dem hübschen Schweiger wäre sexuell fast alles möglich.

Aber eigentlich geht es gar nicht um Sex. Es geht um Möglichkeiten. Um das Wissen: Wenn wir wollten, dann könnten wir ein anderes Leben führen. Dann angeln wir uns auf dem nächsten Klassentreffen den Millionär. Aber wenn's ernst wird, würden wir dann wirklich wollen? "Nein", sagt der Hamburger Paartherapeut Michael Mary. Das sind nette Fantasien, nichts für die Realität. Aber so hat das Beziehungshaus, das wir uns gebaut haben, zumindest einen kleinen Notausgang. Das macht es uns leichter, eine Beziehung auch in Flautezeiten und Stressphasen durchzuhalten. Und auch Single-Frauen gibt so ein fast vergessener Schatz ein gutes Gefühl: Da sitzt irgendwo noch einer, mit dem man die nervige Kennenlernphase locker überspringen könnte - wenn man nur wollte.

Aber wir wollen ja gar nicht. Sich mal kurz umschauen und checken, ob sie da noch sitzen - klar! Aber was, wenn man den Blick nicht mehr abwenden kann? Weil da nur noch ein Einziger sitzt und ungeduldig wartet, endlich eingewechselt zu werden. Wenn es um mehr geht. Man sich zum Beispiel daran erinnert, dass man mit diesem einen Typen den besten Sex aller Zeiten hatte. Bei meiner Freundin Sarah war das so: Fünf Jahre lang schwärmte sie uns abends beim Rotwein immer wieder von den Liebhaberqualitäten ihres Ex, dem Zahnarzt Mike, vor. Weder psychologische Ratschläge (Er ist ein Macho) noch Sprichwörter (Es ist nicht alles Gold, was glänzt) halfen. Nachdem sie ihn zufällig auf der Straße wiedergetroffen hatte, verließ sie ihren Freund, mit dem sie schon seit Jahren zusammenwohnte.

Sie stürzte sich noch mal mitten rein ins Verlangen und wurde nicht enttäuscht: Zwei Monate lange verbrachten die beiden die meiste Zeit im Schlafzimmer, verließen das Haus fast nur, um zwischendurch etwas zu essen. Filmreif war das - eben: Neuneinhalb Wochen später hatte die Sache mit Mike dann auch ein Ende. Sarahs Fazit: Der Typ ist doch ein Macho. Mein Fazit: Ausgelebte Leidenschaften können für alle Beteiligten nützlich sein - von Mike wird jedenfalls in letzter Zeit nicht mehr gesprochen.

Natürlich ist das Ganze auch ein Zeitgeistphänomen: Erkenne deine Chancen. Nutze sie. Lass nichts aus. Der Möglichkeits-Imperativ ist immer da. Dazu kommt, dass Genügsamkeit nicht die Sache unserer Generation ist. Wir wollen nichts weniger als den besten Mann auf Erden und fragen uns deshalb, ob wir ihn schon haben.

Das Internet verstärkt diese Tendenz. Wenn zwischen zwei Terminen mal eine Viertelstunde Leerlauf ist, schaut man bei StayFriends oder Facebook, was alte Studienkollegen oder die erste Liebe machen - und schreibt eine zwanglose Mail. Es dauert fünf Minuten, jemanden wiederzufinden, den man zwanzig Jahre nicht gesehen hat. Im Internet geht keiner verloren. Durchs Google-Netz schlüpfen höchstens noch Verflossene mit Allerweltsnamen wie Thomas Schmidt oder Oliver Meier - und die erlangen dadurch sogar eine geheimnisumwitterte Aura.

Die Mail an den ersten Freund ist unsere kleine Flucht in der Nostalgie-Kapsel. Der Trip ist immer schön - egal, ob die Knutscherei in der Besenkammer des Hausmeisters im Prinzip so peinlich war, wie es Boris Becker heute ist. Denn genau das ist der große Vorteil von Erinnerungsmännern: Sie erscheinen in gutem Licht. Und werden immer besser, je öfter wir einen schnellen Blick auf sie werfen. Gedächtnisexperten fanden nämlich heraus, dass sich jedes Mal, wenn wir uns an eine Situation von früher erinnern, immer mehr Fehler einschleichen. Auch, weil wir immer bereit sind, unsere Erinnerung anhand von aktuellen Informationen zu verzerren: Wenn z. B. Personen in einem gefälschten Video den Hasen Bugs Bunny durch Disneyland laufen sehen, behaupten sie danach, sie hätten in ihrer Kindheit den Hasen dort auch gesehen. Dabei war Bugs Bunny eine Comicfigur der Konkurrenz und würde niemals in dem Vergnügungspark auftauchen.

Solche falschen Hasen oder in diesem Fall: Männer mit fantastischen, aber leider unrealistischen Eigenschaften laufen auch in unseren Gedanken herum. So sitzen auf der Ersatzbank eben immer ein paar echte Traummänner. Auch auf meiner. Aber kürzlich beim Klassentreffen begegnete ich dem wilden Weltenbummler Fabian wieder. Er hatte sich überhaupt nicht verändert. Als Erinnerungskonserve war mir das gerade recht gewesen. Aber jetzt stand der Typ neben mir und war echt - und erzählte immer noch das Gleiche: die großen Reisen, der Winter auf La Gomera, der Sommer als Skipper in der Karibik. Einer von denen, die einfach stehen geblieben sind. In Wirklichkeit, finde ich, ist ein Bauchansatz vielleicht doch ganz schön sympathisch.

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Text: Anne Otto Foto: Getty Images Ein Artikel aus der BRIGITTE BALANCE 03/09

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