Kopfschmerzen: Wenn der Schädel zu platzen droht
Es pocht und wummert hinter den Schläfen, der ganze Kopf tut weh, als wenn er platzen würde, und kein vernünftiger Gedanke ist mehr möglich. Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten Alltagsbeschwerden. Zwei von drei Erwachsenen leiden - zumindest gelegentlich - darunter, Frauen häufiger als Männer: Willkommen in der "Kopfschmerzgesellschaft."
Meist geht die Kopfschmerzattacke schnell vorüber, oft lässt sie sich mit einfachen Mitteln oder einem Griff in die Hausapotheke lindern. Doch das gelingt nicht immer. Bei vielen kehren die Qualen in Abständen wieder, und nicht selten wütet der Schmerz fast ununterbrochen und dauerhaft, wird zum chronischen Kopfschmerz, bei dem ein normales Leben kaum noch möglich ist.
Der eindeutig klingende Begriff täuscht: Kopfschmerzen sind nicht gleich Kopfschmerzen. Stärke, Dauer, Charakter und vor allem Ursache können höchst unterschiedlich sein. Wirklich erfolgreich behandeln lassen sie sich deshalb nur, wenn es gelingt herauszufinden, was hinter den Schmerzen steckt.
243 Arten Kopfschmerzerkrankungen gibt es insgesamt
Die Weltgesundheitsorganisation WHO unterscheidet auf ihrer international gültigen Liste 243 Arten von Kopfschmerz. War es am Abend vorher etwas zu viel Rotwein, dann schlagen wir uns mit Nummer 134 herum, trinken am besten viel Wasser und legen uns möglichst mit einem kalten Umschlag aufs Sofa. Auch bei entzündeten Nasennebenhöhlen dröhnt der Schädel, Kopfschmerz Nummer 204, doch die Ursache dafür ist offensichtlich, und man weiß, dass der Schmerz in ein paar Tagen überstanden sein wird.
Nur selten sind Kopfschmerzen ein Warnsignal für eine lebensbedrohliche Erkrankung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Hirntumor dahintersteckt, Kopfschmerz Nummer 116, beträgt nur drei zu 100.000.
Sind Alkohol oder eine andere Erkrankung schuld an dem Wummern und Dröhnen im Schädel, sprechen Ärzte von "sekundären" Kopfschmerzen. Sie verschwinden in der Regel, wenn der Rotwein im Körper abgebaut, eine Erkältung abgeklungen oder die ursächliche Krankheit behandelt ist.
Soforthilfe bei Kopfschmerz:
- Starker Kaffee mit einem Schuss Zitronensaft und weitere Lebensmittel gegen Kopfschmerzen
- Spaziergang an der frischen Luft
- Kalt-warme Fußbäder im Wechsel oder ein entspannendes warmes Vollbad
- Kalte Kompressen auf die Stirn oder warme in den Nacken
- Pfefferminzöl (10%ig in Alkohol aus der Apotheke) auf Schläfen und Stirn
- Sanfte Streichmassagen zur Lockerung einer verspannten Nacken- und Schultermuskulatur
- Akupressur der Beruhigungspunkte an der linken und rechten Schläfe, etwa einen Fingerbreit neben der Augenbraue
- Rezeptfreie Schmerzmittel für höchstens drei Tage hintereinander und maximal an zehn Tagen im Monat
Kopfschmerzen treten häufig ohne erkennbare Ursache auf
Gut 90 Prozent aller Attacken werden, wie die Forschung festgestellt hat, nicht durch Verletzungen und andere Erkrankungen ausgelöst. Hier ist der Schmerz keine Reaktion auf irgendetwas, sondern selbst die eigentliche Krankheit. Und die Ursache für diese "primären" Kopfschmerzen lässt sich in den Tiefen unseres Nervensystems nur schwer aufspüren.
Die häufigste Form dieser Beschwerden sind Spannungskopfschmerzen. 13 verschiedene Varianten stehen unter Nummer 24 bis 36 auf der WHO-Liste. Umfragen zufolge plagen sie fast jeden von uns mindestens einmal im Jahr, mehr als zwei Millionen Deutsche sogar täglich. Dumpf drückend wie ein Schraubstock legen sie sich beidseitig um den Schädel. Aber im Gegensatz zu Migräne gehen sie nicht mit Übelkeit einher und können sich bei körperlicher Aktivität bessern.
Früher hielt man - daher der Name - Verspannungen in Hals- und Nackenmuskeln für die Ursache, heute wissen die Forscher, dass das Gehirn selbst Verursacher dieser Schmerzen ist: Bestimmte Filter im Hirnstamm, die regulieren, welche und wie viele Schmerzinformationen in unser Bewusstsein gelangen, funktionieren bei dieser Kopfschmerzart nicht mehr richtig. So werden schon ganz normale Signale aus Muskeln und Gelenken als schmerzhaft empfunden.
Der Schmerz frisst sich mit der Zeit immer tiefer ins Hirn
Und je länger die Schmerzwahrnehmung gestört ist, desto stärker verändert sie selbst wiederum das Gehirn. Die Schmerzen hinterlassen ihre Spuren in den Hirnzellen. Im Gehirn, das normalerweise völlig empfindungslos ist und selbst keinen Schmerz kennt, entsteht ein "Schmerzgedächtnis". Und im schlimmsten Fall verselbständigt sich der Schmerz, ist also auch ohne vorangegangene Reize spürbar oder allein dadurch, dass die Betroffenen an etwas denken, das ihr Leid auslösen könnte.
Der Hamburger Neurologe Privatdozent Arne May konnte nachweisen, dass in den Schmerzzentren von Menschen mit chronischen Spannungskopfschmerzen sogar graue Hirnsubstanz verloren geht. Der Schmerz frisst sich mit der Zeit immer tiefer ins Hirn, seine Spuren sind immer schwerer zu löschen. "Besteht ein Kopfschmerz über mehr als fünf Jahre, können die Betroffenen kaum wieder ganz schmerzfrei werden", sagt Professor Hans-Christoph Diener, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie Essen.
Auch Migräne, Nummer 1 der WHO-Liste und zweithäufigste Form "primärer" Kopfschmerzen, erzeugt das Gehirn selbst. Bei betroffenen Patienten ist es, wahrscheinlich aufgrund einer erblichen Veranlagung, überaktiv und überflutet sich deshalb in bestimmten Situationen mit Nervenbotenstoffen. Dadurch erweitern und entzünden sich die Blutgefäße der Hirnrinde. Gleichzeitig nimmt die Empfindlichkeit der Nervenfühler im Hirnstamm zu. Die Folge: der typische pulsierend-pochende Schmerz, der bei jeder Bewegung heftiger wird und mit Übelkeit bis zum Erbrechen einhergeht.
Ausgelöst wird die Reaktionskaskade meist durch eine Kombination verschiedener Faktoren, dabei spielen auch Hormone, vor allem die Schwankungen des Östrogenspiegels, eine Rolle. Deswegen leiden mehr Frauen als Männer unter Migräne, zumindest bis sich der Hormonspiegel im Laufe der Wechseljahre wieder stabilisiert.
Ein anderer wichtiger Auslöser ist Stress. "Das Gehirn einer Migränepatientin gewöhnt sich nicht daran, sondern wird zunehmend sensibler", erklärt Kopfschmerzspezialist Arne May. Hinzu kommt, dass Migränekranke oft sehr gewissenhaft sind, sich selbst und anderen nichts vergeben und nicht merken, dass sie sich damit überfordern. Erst die Migräneattacke zwingt sie zu Ruhe und Schonung. Lernen die Betroffenen, durch eine Verhaltenstherapie und Entspannungstechniken anders mit Belastungen umzugehen, kann dies ihre Migräne lindern.
Weitere mögliche Therapien bei dauerhaften Kopfschmerzen
Aufwändige Spezialuntersuchungen sind bei Kopfschmerzen meist nicht nötig. Viel wichtiger ist es, den Schmerz und seine Begleitumstände genau zu beobachten. Hilfreich kann dabei ein Kopfschmerztagebuch sein. Denn wann es wo und wie weh tut, ist entscheidend für die exakte Diagnose, für die Zuordnung zu einer der 243 Nummern und letztendlich auch für die Therapie. Je mehr der Arzt weiß, desto besser und gezielter kann er behandeln. Ein Beispiel: Bei Migräne bekämpfen Mittel mit einem Triptan-Wirkstoff nicht den Schmerz, sondern direkt dessen Ursache, die Entzündung der Hirngefäße.
Mediziner aus San Francisco berichteten auch von sensationellen Erfolgen mit einem anderen kleinen Elektrostimulator. Er wird nicht ins Hirn, sondern in den Nacken, in die Nähe eines bestimmten Nervs, implantiert. Die Schmerzen gingen damit um 80 bis 90 Prozent zurück. "Diese Therapien können aber nur der allerletzte Ausweg sein", sagt Arne May. Denn solche Eingriffe sind mit erheblichen Risiken verbunden und helfen nicht jedem. Doch die meisten Patienten können schon mit herkömmlichen Methoden sehr gut behandelt werden.
Trotzdem machen viele Menschen Kopfschmerzen nach wie vor mit sich selbst aus. Über die Hälfte der von Spannungskopfschmerzen Betroffenen war mit ihrem Leiden noch nie bei einem Arzt. Auch viele Frauen mit Migräne sind der Meinung, ihnen könne niemand helfen, sie müssten ihre Krankheit erdulden.
Im Zweifelsfall immer zum Arzt gehen!
Dabei ist es fatal, immer wiederkehrende Schmerzen nicht ausreichend und nur auf eigene Faust zu behandeln. Allzu leicht können sie chronisch werden. Die Grenze liegt bei 180 Tagen im Jahr. Oder wenn über mindestens sechs Monate hinweg an jeweils mehr als 15 Tagen pro Monat Schmerzen auftreten. Dann sind bereits tiefe Spuren im Gehirn eingegraben, und die Behandlung ist langwieriger und schwieriger. Besser ist es deshalb, mit dem Besuch beim Arzt nicht so lange zu warten. Tumoren, Blutungen oder andere lebensgefährliche Erkrankungen sind nur selten Ursache von Kopfschmerzen. Bei folgenden Warnsignalen sollte allerdings umgehend ein Arzt aufgesucht werden:
- Wenn die Beschwerden schlagartig und heftig auftreten, wenn sie mit Fieber, Persönlichkeitsveränderungen oder Schwindel und neurologischen Ausfällen wie Sehstörungen einhergehen oder wenn sie nach einem Trauma, also einem Schlag oder Sturz auf den Kopf, auftreten
- Bei anhaltenden Kopfschmerzen, die in dieser Form noch nie da waren, sollte ein Arzt die Adern an Kopf, Hals und Schultern mit Ultraschall untersuchen. Denn solche diffusen Kopfschmerzen können eventuell durch eine Entzündung der Schläfenarterien hervorgerufen werden. Diese so genannte Riesenzellarteriitis entsteht durch eine fehlgeleitete Immunreaktion. Drei Viertel der Betroffenen sind Frauen über 50 Jahre.
Wird die Krankheit nicht schnell genug entdeckt, sind bleibende Schäden möglich.So können Patientinnen erblinden, wenn die Gefäße betroffen sind, die den Sehnerv versorgen, warnt Wolfgang Schmidt, Leitender Oberarzt der Rheuma-Klinik Berlin-Buch. Durch eine rasche Behandlung mit Kortison lässt sich das verhindern. Auch die Schmerzen sind dann weg. "Bei mehr als 85 Prozent der Patientinnen wird die Arteriitis mit Ultraschall festgestellt", sagt Schmidt, der die Diagnosemethode entwickelt hat.
Medikamente gegen Kopfschmerzen können abhängig machen
Häufiger Tablettenkonsum kann abhängig machen und seinerseits Kopfschmerzen auslösen. Ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung leiden unter einem solchen Medikamentenkopfschmerz. Das einzige Mittel dagegen ist ein Entzug, der sich über zwei bis drei Monate hinziehen kann. "Dabei vermitteln wir den Betroffenen auch, dass der Entzug nicht unsere Leistung ist, sondern ihre eigene sein muss", so Arne May.
Dem Schmerz nicht mehr hilflos ausgeliefert zu sein, ihn wieder kontrollieren zu können - das ist einer der wichtigsten Schritte im Kampf gegen das Inferno im Kopf. Denn dass der Schmerz im Gehirn entsteht, heißt auch, dass seine Wahrnehmung sich durch unser Verhalten, unsere Gedanken und Gefühle beeinflussen lässt. Kopfschmerzen müssen also kein Schicksal sein. Doch wer zu lange zögert, bis er Hilfe bei Experten sucht, und sie mit zusammengebissenen Zähnen erträgt, vergibt die Chance auf Heilung.
Experteninterview:
"Rechtzeitig gegensteuern ist wichtig"
Die Gefahr, dass Kopfschmerzen chronisch werden, ist groß. Wie sich das verhindern lässt, erforscht Professor Dr. Hans Christoph Diener, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen und Leiter des Deutschen Kopfschmerzkonsortiums.
BRIGITTE WOMAN: Professor Diener, wie groß ist die Gefahr, dass Kopfschmerzen chronisch werden?
Hans Christoph Diener: Drei Prozent. Das heißt: Innerhalb eines Jahres werden bei etwa drei Prozent der deutschen Bevölkerung aus gelegentlichen Kopfschmerzen chronische. Wer häufi g Schmerzmittel einnimmt, hat nach unseren Studienergebnissen ein achtmal höheres Risiko. Deswegen ist es umso wichtiger, rechtzeitig gegenzusteuern.
BRIGITTE WOMAN: Wann ist dieser Zeitpunkt erreicht?
Hans Christoph Diener: Wer bereits an mehr als zehn Tagen im Monat Schmerzmittel benötigt, dem hilft eine Akuttherapie nicht mehr. Statt immer mehr Tabletten zu nehmen, sollte spätestens dann mit einer gezielten Behandlung begonnen werden, die der Entstehung von Schmerzen vorbeugt.
BRIGITTE WOMAN: Wie sieht die aus?
Hans Christoph Diener: Am besten sollte eine Kombination aus Medikamenten, verhaltenstherapeutischen Maßnahmen wie Entspannungsverfahren und Techniken zur Stressbewältigung und regelmäßigem Ausdauersport eingesetzt werden.
BRIGITTE WOMAN: Genau diese Rundum-Therapie sieht das von Ihnen initiierte Modellprojekt "Integrierte Versorgung Kopfschmerz" vor. Welche Erfolge erzielen Sie damit?
Hans Christoph Diener: Die Zahl der Kopfschmerztage geht um 35 bis 40 Prozent zurück, die Fehlzeiten am Arbeitsplatz halbieren sich. Und obwohl die Krankenkassen erst einmal mehr bezahlen müssen, weil mit jedem Patienten außer dem Arzt auch Neurologen, Psychologen, Sport- und Physiotherapeuten arbeiten, ist diese Form der Behandlung am Ende trotzdem kostengünstiger als die sonst übliche Therapie.
BRIGITTE WOMAN: Sie betreiben das Projekt im nordrheinischen Gebiet. Soll es ausgeweitet werden?
Hans Christoph Diener: Das ist bereits geschehen. Auch in München, Berlin und Jena wird diese Versorgung inzwischen angeboten. Weitere Städte sollen folgen. Allerdings beteiligt sich noch nicht jede Krankenkasse daran.
BRIGITTE WOMAN: Und was raten Sie Patienten, die noch keine solche Versorgung bekommen können?
Hans Christoph Diener: Die sollten sich an einen Schmerzspezialisten, am besten einen Neurologen, wenden. Das Wichtigste ist, frühzeitig zum Arzt zu gehen und nicht zu denken, man müsse die Schmerzen aushalten.