Sappho und die Musen. Eine Lesbos-Reise
Hilda und das Wasser
Ins weiße Fliesenbecken steigen und untertauchen. Durch das offene Fenster in das Stückchen ein- gerahmten Himmel starren: ein tiefes Blau, weich wie Samt. Ein Windhauch kühlt Kopf und Gesicht. Vor dem Badehaus knirschen nackte Füße im Kies. Das Meer ist an diesem Morgen träge. Ein Klopfen an der Tür. Hilda fragt: "Alles okay?" Wenn sie zufriedenes Grunzen hört, geht sie weiter.
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Hilda Burger-Batzakis ist eine der vielen Frauen, die auf Lesbos das Leben gesucht und gefunden haben, das zu ihnen passt. An schönen Tagen wie diesem hat Hilda hundert Besucher, die im Heilbad Erholung und Linderung suchen. Sie kontrolliert die Sauberkeit der Becken und passt auf, dass niemand die Wirkung des Wassers unterschätzt. Im Quellwasser gibt es, amtlich bestätigt, Chlor, Natrium und Radium. Es schießt mit über 40 Grad aus dem Boden und lindert Verspannungen, Rheuma, Arthritis und Ischias, Frauenleiden und Hexenschuss. "Und kranker Haut", sagt Hilda, "kann man beim Heilen zusehen." Wenn das Herz nach 20 Minuten schneller schlägt, ist es Zeit, aus dem Becken zu steigen und sich langsam wieder anzuziehen.
Hilda spricht mit den Besuchern der Heilquelle Griechisch, Englisch und Deutsch - und bedauert Touristen, die auf ihrer Tour durch den Norden der Insel, auf der Straße zwischen Molivos und Skala Sykamineas, an dem Bad in der kleinen Bucht von Eftalou vorbeifahren. 20 Minuten Heilung und Entspannung für fünf Euro - wer hier vorbeirauscht, hat wirklich etwas verpasst.
Seit über zehn Jahren ist Hilda hier die Chefin. Wer 52 Jahre alt ist und seit 27 Jahren auf der Insel lebt, weiß sehr genau, dass nicht alles, was man anpackt, auf Anhieb gelingt. Hilda ist mit einer Taverne Pleite gegangen und musste anschließend für wenig Geld in anderen Tavernen Geschirr spülen. Als sie das Bad übernahm, war es ziemlich verrottet - sie hat es mit EU-Geldern wieder aufgebaut.
Toula und die Touristen
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Sand und Olivenbäume - mehr gibt es nicht zwischen dem Meer und der Pension von Toula Zakof am Ortsausgang des Städtchens Petra im Norden der Insel. Sich von den Wellen in den Schlaf wiegen lassen und dem Wind zuhören, wie er nachts über den Strand streicht - entspannter kann man nicht schlafen. 1957, Toula war 17, ist sie mit Costa, dem späteren Ehemann, nach Deutschland gegangen. 14 Jahre lang hat sie im Akkord Spielzeugeisenbahnen zusammengesteckt für ihren Traum: ein Haus am Meer in Petra im Norden der Insel, mit schönen Zimmern zum Vermieten. Jetzt ist Toula 67, und der Traum ist ein Erfolg geworden. Viele ihrer Gäste sind Freunde aus der harten Zeit in Deutschland. Toula war 32 Jahre alt, als sie zurückkehrte, sprach sehr gut Deutsch, und die Regierung in Athen forderte 1983 alle griechischen Frauen auf, mit staatlicher Unterstützung Kooperativen zu gründen. Der Aufruf war fast wie ein Schlachtruf: Frauen, die Emanzipation fängt mit dem eigenen Geldbeutel an! Und siehe da: Die erste Frau, die das wirklich wollte, war Eleni Chioti aus Petra von der Insel Lesbos. Toula Zakof war sofort dabei. Das Zauberwort hieß: Frauen machen Tourismus.
Schon die ersten Berichte lösten einen gewaltigen Boom aus. Deutsche Feministinnen vermuteten hier Feministinnen. Lesben dachten an Kooperativen, in der Frauen Frauen lieben. Falsch gedacht. Die Frauen, die auf Lesbos den Tourismus ankurbelten, liebten ihre Männer und ihre Kinder. Ihre Emanzipation war das selbst verdiente Geld.
Frauen wie Toula, tüchtig und ohne Angst vor Expansion, mussten die Kooperative wieder verlassen, weil nach der Satzung keine Frau mehr als vier Zimmer vermieten durfte. "So ist das Leben", sagt Toula, "manche möchten wachsen, und manche möchten klein bleiben. Ich wollte wachsen."
Eleni, Magdalena und die "Cantina" auf Lesbos
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Da schält sie, fast eine Berühmtheit, in der Küche Kartoffeln. Eleni Chioti hat sich für die "Cantina" in Petra halb tot geschuftet. Es hat sich gelohnt. Eine steile Treppe führt in das Restaurant. Ein schmucker Raum mit Blick aufs Meer. In der "Cantina" riecht und schmeckt es köstlich. Heute bietet Elenis Tochter Magdalena das Mittagessen an. Stifado? Moussaka? Mit Käse gefüllte Zucchiniblüten? Genussvoller kann Solidarität nicht sein. Hier isst und trinkt man mit dem guten Gefühl, die Selbständigkeit der griechischen Frauen zu unterstützen. Die vermieten in Petra nicht nur Zimmer, sie bieten allen, die mehr wollen als in der Sonne schmoren, Abwechslung an. Lust, ein bisschen Griechisch zu lernen? Bitte schön, es gibt Kurse. Griechisch tanzen üben? Macht Spaß. Kochkurs bei Eleni? Da kann man was lernen.
Irene und die Oliven
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Vor 18 Jahren hat sich Irene Schodlok zuerst in Lesbos, dann in das schmucke Petra und später in das Nachbardörfchen Petri und hier in eine Ruine verliebt, die sie zum Traumhaus umbauen wollte. Was man dazu braucht? Geld, Charme und genügend Starrsinn, um sich gegen alle aufzulehnen, die im Weg stehen. Sie war damals 42, hatte einen erwachsenen Sohn, 25 Ehejahre und eine Scheidung hinter sich und im Kopf die Frage, die beantwortet werden wollte: War's das schon fürs ganze Leben, oder gibt es eine Zukunft? Vielleicht auf Lesbos? Sieben Jahre betrieb Irene Schodlok ein hübsches Strandcafé in Petra. Als weniger Touristen kamen, weil Flüge zu anderen europäischen Urlaubszielen billiger wurden als Flüge nach Griechenland, verkaufte sie das Café, steckte das Geld in die Ruine und baute an ihrem Traum. Wie ein Esel hat sie für dieses Haus geschuftet. Nachts schlief sie in den Ecken der Ruine wie ein ausgesetzter Hund und bewachte ihr Haus. Ein paar Jahre lang war sie in einer Person Bauarbeiterin ohne Lohn und Erntehelferin - schließlich wachsen auf Lesbos zwölf Millionen Olivenbäume. Für die Arbeit gab es kein Geld, sondern nur das Öl.
Unter ihr das Meer und über ihr der Himmel - oder ist das umgekehrt? Das Haus ist ein Juwel geworden. "Glück ist", sagt Irene Schodlok, "wenn ich mich nachts unter dem Himmel nicht größer als ein Käfer fühle. Dann denke ich: Ein kleiner Mensch muss nicht für alles in der Welt verantwortlich sein."
Als Erntehelferin entdeckte Irene Schodlok ihre Liebe zu den knorzigen alten Olivenbäumen, die in den Hainen stehen wie alte Bauern. Gedrungen, verwittert, von der Hitze und dem Wind verbogen. "Wer die Bäume liebt, liebt auch die Früchte", sagt Irene. Sie hat im Laufe der Jahre ihre "Olivenzunge" entdeckt, die gute von superguten Ölen unterscheiden kann. Diese Zunge hat sie in den letzten Jahren in alle Öle auf Lesbos gesteckt und herausgeschmeckt, wo die besten Öle gemacht werden. Die schmecken fruchtig. Sie sind goldgrün und haben wenig Säure. Und weil Olivenöl ein gesundes Lebensmittel ist und außerdem die Haut nach dem Bad weich wie Babyhaut macht, hat Irene Schodlok eine Firma gegründet und verkauft das "grüne Gold des Mittelmeers" in Deutschland.
Irini und die verlassenen Tiere
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Eine Fahrt über die Insel in den Westen ist wie eine Reise durch die Wüste. Die Schatten der Wolken gleiten über verdorrtes Moos, auf dem Hügel steht ein kahler Baum, und auf den Felsen blöken magere Ziegen. Wem es zwischen der Hand voll Häuser in Gavathas zu einsam ist, der sollte wenigstens einen Spaziergang an dem einsamen Strand machen, an dem man, wenn man Glück hat, von Schildkröten langsames Laufen lernen kann.
Der Magnet des Städtchens Skala Eressou im Südwesten der Insel ist eine alte Dame. Sappho hat 2600 Jahre Verehrung auf dem Buckel, sie gilt als erste Lyrikerin der Geschichte. Sie war verheiratet, hatte eine Tochter, unterrichtete wohlhabende junge Mädchen, verliebte sich in die eine oder andere und dichtete über Glück und Liebe, Eros, Ohnmacht und Tod. Von ihrer Lyrik existieren leider nur noch Fragmente. Gedichtzeilen, denen der Anfang fehlt, Aphorismen, die zum Ende hin abreißen, Lebensweisheiten. "Rühr nicht an Geröll . . . Macht sich in deinem Herzen der Zorn breit, nimm sie in Acht, die eifernde Zunge." Wer an Geröll rührt, löst eine Lawine aus - wollte sie uns das sagen?
Ein langer Strand, ein Meer. Schön ist es hier, egal, ob sich am Ort tatsächlich die Dame Sappho aufgehalten hat. Die Verehrerinnen der Dichterin - und davon gibt es in Skala Eressou ziemlich viele - nehmen die Verse aus der Vorvergangenheit wörtlich. "Kommt herein, Grazien zart, Musen mit schönen Haaren . . . "
"Skala Eressou ist nur ein Ort für den Sommer", sagt Irini Dimitrakopoulou. Sie ist 32 Jahre alt und betreibt mit ihrem Freund ein Restaurant, in dem das Essen, so steht es auf der Speisekarte, mit Liebe gekocht und mit Stolz serviert wird. Irini arbeitet wie ein Brummkreisel. Wer ihr zuschaut, denkt, der Pferdeschwanz als Frisur sei nur erfunden worden, damit sich Irini zwischen Haar und Gummi fünf Kugelschreiber stecken kann.
Wie die meisten Geschäftsleute verlässt auch sie den Ort im Winter. Dann sind die Straßen leer, die meisten Läden verrammelt. Dann schleichen magere Hunde und Katzen wie Gespenster durch die windigen Gassen. Weil ohne Touristen kein Bissen mehr vom Tisch fällt, schien es nur zwei Möglichkeiten zu geben: Man lässt die Tiere verhungern oder gibt ihnen Gift. Oder gründet die Initiative "SOS für Tiere", zu der Irini gehört. Neben der Kasse steht die Sammelbüchse - auf Trinkgeld verzichtet sie gern. Das Geld wird für Pflegeheime, Impfungen und Futter ausgegeben. Irini könnte am Ende der Saison Skala Eressou nicht verlassen, wenn sie wüsste, dass hier Hunde und Katzen verhungern.
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Mopeds knattern wie verrückte Hummeln, Autos hupen die Fußgänger von der Straße. Das moderne Mytilini, die Hauptstadt der Insel, ist, wenn man aus der Stille kommt, eine kleine Hölle. Keine halbe Stunde vor Mytilini liegt die Therme Spa in einer verschwiegenen Bucht am Golf von Geras. Der Eintritt kostet weniger als ein Eis. Heißes Quellwasser schießt in das Becken, knapp unter 40 Grad. In alten Aufzeichnungen heißt es, das Wasser helfe gegen Rheuma und Arthritis, Frauenleiden und Gewichtsprobleme. Der Tipp kommt von Irene Schodlok und war wie ein Geschenk zum Abschied. Einmal lag sie hier im Bad, als ein Sonnenstrahl durch das Fenster fiel und die Mosaiken unter ihren Füßen wie tausend Sterne glitzerten. Da wusste sie, dass der Wunsch, den sie jetzt ausspricht, in Erfüllung gehen würde. Also haben auch wir einen Wunsch in der Therme gelassen - und warten.
Info Lesbos
Vorwahl für Griechenland: 00 30
Anreise Mit Olympic Airways täglich über Athen oder Saloniki nach Mytilini, ca. 400 Euro. Mit LTU mittwochs (ab Anfang Mai bis Mitte Oktober) ab Düsseldorf oder München direkt nach Mytilini, ca. 360 Euro (www.ltu.com).
Ausflüge
Süden: In Vrissa über den längsten Strand der Insel laufen. Mit dem Auto oder dem Motorrad die beiden Golfe Kallonis und Geras umrunden. Westen: Den "versteinerten Wald" zwischen Sigri und Antissa besuchen, der 15 bis 20 Millionen Jahre alt ist. Die Landschaft vermittelt ein echtes einsames Arizona-Gefühl. Inselmitte: Kloster Limonos, interessantestes Kloster der Insel. Während der Türkenherrschaft Hüter der griechischen Sprache und Schrift. Besichtigung alter Pilgerzellen. In der Nachbarschaft: das Frauenkloster Myrsiniotissas mit verwunschenem Garten und scheuen Nonnen. Norden: Das quirlige Städtchen Molivos und das Hafenstädtchen Skala Sykamineas mit Blick auf die Türkei. Wenn die Zeit reicht: mit dem Schiff von Mytilini nach Ayvalik in der Türkei übersetzen - je nach Saison zwei- bis viermal in der Woche. Großer Basar, preiswerte Unterkünfte. Und wenn man schon mal dort ist: mit dem Bus zur berühmten Tempelanlage von Pergamon fahren.
Erleben, geniessen, lernen
Wandern und alles über Olivenbäume, Öl und Heilkräuter erfahren bei Irene Schodlok in Petri. Tel. 225 30/419 32 oder in Deutschland: 080 41/793 37 81 und 01 79/ 650 39 11, www.oli-vine.de (hilft auch bei der Vermittlung von privaten Unterkünften). Wohnen, wandern, tanzen, kochen, Griechisch lernen bei Eleni Chioti (Frauenkooperative in Petra), Tel. 225 30/ 412 38 oder -413 09. Geführte Wanderungen, Unterkünfte (auch für Gruppen): Erika Meyer in Polichnitos, Tel./Fax 225 20/426 78. Therme in Polichnitos: Heilbad bei Rheuma und Arthrose. Getrennte Becken für Männer und Frauen. Gilt als schönste Therme der Insel. Spa Loutra Korfou am Golf von Geras, nahe Hotel "Mytilana Village". Getrennte Becken für Männer und Frauen.
Unterkünfte
Mytilana Village, außerhalb der Hauptstadt am Golf von Gera. Schwimmbad, Garten, Blick auf den Golf. DZ ab 55 Euro, Tel. 225 10/206 53, www.mytilanavillage.gr. Hotel Panselinos, zwischen Molivos und Eftalou. Große Zimmer, ruhige Lage, Blick auf die türkische Küste. DZ ab 55 Euro, Tel. 225 30/719 05. Hotel Sappho in Skala Eressou, fest in Frauenhand. DZ ab 40 Euro, Tel. 225 30/534 95.
Essen, Trinken
In Petra bei der Frauenkooperative "Cantina". In dem schönen Fischerdorf Skala Sykamineas bei Christo Karagianakis. Spezialität: frische Fische. In Petri, Bergnest bei Petra: nach Eleni fragen. Taverne mit großer Terrasse. Die Familie kocht authentisch griechisch. In Stipsi, dem hübschen, reichen Dorf über Petri, isst man urig, üppig und reell bei Christos und Meni im "Melbourni".
Lesen
Ausführlicher Lesbos-Reiseführer (15,90 Euro, Michael Müller Verlag). Daphnis und Chloe von Longos. Ein antiker Liebesroman, der auf Lesbos spielt (6,50 Euro, Insel Verlag). Homer: Die Odyssee, deftig neu übersetzt von Christoph Martin (19,90 Euro, Eichborn Verlag). Ilias Venesis: Äolische Erde, Roman einer griechischen Kindheit (11 Euro, Insel Verlag).
Info
Griechische Zentrale für Fremdenverkehr in Frankfurt/Main, Tel. 069/257 82 70, www.gnto.gr; Globus Reisen - Christine Holzer ist Lesbos-Spezialistin in Murnau: Tel. 088 41/48 94 89, www.globus-murnau.de.