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St. Petersburg: Urlaub im Sog der weißen Nächte

St. Petersburg zeigt sich ab Juni in Feierlaune - wenn es nicht dunkel werden will. BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiterin Evelyn Holst machte mit ihrer Freundin Eva Urlaub und erlebte eine Stadt im Ausnahmezustand.
0.30 Uhr früh: Greifen im Dauereinsatz. Die Fabelwesen mit den goldenen Flügeln halten die Eisenseile der prachtvollen Bankbrücke, die sich über den Gribojedow-Kanal spannt.
0.30 Uhr früh: Greifen im Dauereinsatz. Die Fabelwesen mit den goldenen Flügeln halten die Eisenseile der prachtvollen Bankbrücke, die sich über den Gribojedow-Kanal spannt.
© Pomyantovskiy/istockphoto.com

Es ist zwei Uhr nachts auf dem Newski-Prospekt und draußen noch so hell, dass die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet ist und ich meine Freundin Eva ohne Blitz fotografieren kann. Meteorologen nennen das die "bürgerliche" Dämmerung, es folgt die "nautische", bei der die Sterne größer und größer werden, aber am Himmel kaum zu sehen sind.

Um uns herum tobt das Leben - junge, verliebte Pärchen, nachtaktive Rentner mit Rucksäcken und staunenden Augen, unermüdliche Musiker und Straßenhändler - eine Woge aus lachenden, tanzenden, trinkenden Menschen wälzt sich durch die Stadt - und wir beide mittendrin. Tage, die einfach nicht aufhören, Licht, das sich nicht verdunkeln will, das ist so gegen jeden gewohnten Rhythmus, so gegen jede Gewohnheit, dass man sich nur treiben lassen kann. Ein euphorisches Gefühl wie in der Kindheit, wenn man draußen Verstecken spielte und niemand rief: "Zeit zum Schlafengehen!"

Und so stehen wir beide jetzt in einer taghellen Juninacht mitten in St. Petersburg, und an Schlaf ist natürlich überhaupt nicht zu denken. Das wollen wir auch gar nicht. Wir wollen mitfeiern, ohne großes Besichtigungsprogramm diese Stadt erleben. Wie gut, dass Eva sich auskennt, sie ist mehrfach im Jahr hier, spricht Russisch und hat eine russische Großmutter. Das milchige Licht am Horizont, ist das schon die Sonne oder noch der Mond oder beides? Egal. "Lass uns mal Luft holen", schlägt Eva vor und führt mich zum Taurischen Garten. Wir umrunden den See in seiner Mitte und setzen uns auf die Schaukeln des Spielplatzes, nehmen Schwung und kreischen.

Yippiiiiiie! Weiße Nächte setzen Verrücktheiten frei, die man sich zu Hause viel zu wenig erlaubt. Im Gegensatz zum Trubel auf dem Newski ist es hier grün und still, die Millionenmetropole wird zur Geisterstadt, aus der Ferne grüßt das Institut Smolny mit dem Lenin-Denkmal. "Ein ganzer Moment der Freude, ist das nicht für ein vollkommenes menschliches Leben genug?", hat Dostojewski über die Weißen Nächte einmal gesagt und muss an genauso einen Moment gedacht haben.

Evas Handy klingelt. Eine Einladung ins Restaurant "Schaljapin". Um 23 Uhr? Warum nicht? Große Runde, kleine Runde? Das weiß man nie, sagt sie, wenn Russen einladen, darf jeder jeden mitbringen, Russen feiern gern.

Nic, ein alter Freund von Eva, früher bei der Lufthansa, jetzt mit der Kunstwelt vernetzt, lädt ein in großer Runde an einer Riesentafel voller "Sakuski", russischer Vorspeisen. "Bedient euch", winkt er uns zu, "seid willkommen". An der Wand hängt ein großer Flachbildfernseher, auf dem gerade "Manche mögen's heiß" läuft, stumm. Stattdessen dröhnt aus dem Lautsprecher russische Opernmusik. Nastrovje! ruft einer aus der Runde und dann noch einer, und ein anderer reicht mir ein volles Wodkaglas, das immer wieder gefüllt wird. "Die jungen Russen trinken nicht mehr viel", sagt Eva, "die alten dafür umso mehr!" Mir wird permanent nachgeschenkt. Nastrovje!

Nächte voller Licht und Leben - Spontanparty auf dem Birzhevaya-Platz.
Nächte voller Licht und Leben - Spontanparty auf dem Birzhevaya-Platz.
© Bibikow/JAI/Corbis

Weiße Nächte sind das Gegenteil von schwarzen Tagen. St. Petersburg kennt beides, dieses faszinierende Weltkulturerbe der Unesco mit seinen 150 Palästen und Kathedralen, 539 Brücken, 42 Inseln und 68 Kanälen. Erbaut wurde die Stadt vor 310 Jahren von Peter dem Großen. Für absoluten Wahnsinn hielten es die Menschen damals, als er den Sümpfen der Newa eine Stadt abtrotzen wollte. Wie schön, dass es damals noch keine pingeligen Bauauflagen gab! Dass St. Petersburg am Reißbrett entstand, hat für eine übersichtliche Innenstadt mit breiten Straßen und Häusern gesorgt. Und dass der umtriebige Zar verfügte, kein Haus dürfe höher sein als der Winterpalast, die heutige Eremitage, für ein harmonisches Stadtbild in Pastelltönen. Die meisten Häuser sind grün, blau, rosa oder gelb gestrichen, Kirchen und Kathedralen schimmern golden.

Jede Perspektive - eine Augenweide. Besonders schön ist sie vom Wasser aus, wenn man keine Angst vor Platzangst hat und sich in eins der Touristenboote quetscht. Nach der Unterquerung der 580 Meter langen Troizki-Brücke liegt rechts die Peter-Paul-Festung, dann leuchtet die Eremitage grüngolden, man biegt in den Winterkanal ein und seufzt einfach nur. Und seufzt gleich wieder, vor Entzücken und Erschöpfung, wenn man später auf der Außenterrasse des Restaurants "Terrassa" sitzt, wo man mit Blick auf die goldene Kuppel der Kasaner Kathedrale Cocktails schlürfen kann.

Es ist die Widersprüchlichkeit dieser Stadt, die einen so schnell gefangen nimmt. Weil ihre Schönheit nicht ohne das Drama von Krieg, Revolution, Zerstörung und Belagerung, ihre Perfektion nicht ohne den Größenwahn ihres Schöpfers zu verstehen ist. Denn diese verdankt sie natürlich einer Hunderttausendschaft ausgebeuteter Zwangsarbeiter.

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"Nur ich und die Mäuse können diese Herrlichkeiten bewundern", hatte sich Katharina die Große (1729-96) beklagt, die in den über 30 Jahren ihrer Regentschaft 3000 Gemälde erwarb, inzwischen sind die Kunstschätze auf drei Millionen angewachsen. Das, was Zwangsarbeiter für eine royale Elite erschufteten, gehört jetzt der ganzen Welt.

Nach knapp zwei Stunden Nachtschlaf, in dieser Überlappung von Übermüdung und Hellwachsein, die Weiße Nächte so anstrengend, aber gleichzeitig so aufregend macht, stehen wir auf dem aufgeschütteten Sand der "Dunes Beach Bar". Hier trifft sich die junge Petersburger Szene. Schläfrige Loungemusik, langsam verschwimmt die Welt, wir essen Schaschlik, draußen geht die nautische Dämmerung gerade wieder in die bürgerliche über.

Sightseeing vom Wasser aus auf die Auferstehungskirche.  Eine Bootsfahrt auf den Flüssen und Kanälen ist jetzt ein MUSS.
Sightseeing vom Wasser aus auf die Auferstehungskirche. Eine Bootsfahrt auf den Flüssen und Kanälen ist jetzt ein MUSS.
© Pomyantovskiy/istockphoto.com

"Ich möchte dir noch ein paar meiner Lieblingsplätze zeigen", sagt Eva am letzten Tag. Sie führt mich in die Lobby-Bar des "Grand Hotel Europe", feinster Jugendstil überall. Hier spielte schon Bill Clinton Saxofon, und Truman Capote, Jack Nicholson und Alain Delon amüsierten sich. Im Park an der blau-weißen St.-Nikolaus-Kathedrale machen wir Pause und lassen ihre opulente Perfektion auf uns wirken. "Ist das nicht die reinste Augenlust?", fragt Eva. Das Loft Project Etagi zeigt junge, freche Kunst, im Café gibt es Bioweine und Vegetarisches.

Mit dicken Füßen keuchen wir zum Abschluss unserer Sightseeingtour 562 steile Stufen bis zur Kuppel der Isaakskathedrale hoch und werden mit einem atemberaubenden Rundblick über die Dächer und goldenen Kuppeln der Stadt belohnt. Später sitzen wir in einem georgischen Restaurant, wo Anatoly Belkin, ein in Russland sehr bekannter Künstler, an diesem Abend die Gesamtzeche für eine große Runde begleicht. Er gilt als "Woody Allen Petersburgs" und muss rasend komisch sein, denn jedes Mal, wenn er etwas sagt, biegen sich alle vor Lachen, leider verstehe ich kein einziges Wort. Es wird gelacht, geraucht, gesungen, das muss die russische Seele sein, von der ich so viel gehört habe.

Anschließend ziehen wir weiter, in die Wohnung eines Freundes, und ich schaue aus dem Küchenfenster. Ein Pärchen knutscht am Fontanka-Kanal, gegenüber grüßt der Sommerpalast von Peter dem Großen. Es ist noch immer hell.

Text: Evelyn Holst BRIGITTE WOMAN 05/2013

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